Ein Jahr Krieg in der Ukraine

Was zu erwarten war und sein wird

22. Februar 2023 von Daniel Schenz
Vor einem Jahr überschritt die russländische Armee die Grenze zur Ukraine. Seither ist Krieg wieder ein Thema in Europa. Wolfgang Mueller ist Professor für Russische Geschichte an der Universität Wien und spricht im Interview darüber, wo der außerordentliche Widerstandswille der Ukrainer*innen herkommt und was der Krieg für das europäische Selbstverständnis bedeutet.
Der Krieg in der Ukraine kam für viele überraschend, für manche nicht. "Diese Dinge können aus der historischen Perspektive wohl besser begriffen werden", sagt Wolfgang Mueller, Professor für Russische Geschichte an der Universität Wien. © Daniel Schenz
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Rudolphina: Was können wir nach einem Jahr über den Krieg in der Ukraine sagen?

Wolfgang Mueller: Es ist ein Krieg, wie wir ihn in Europa in dieser Dimension, in dieser Art, auch in dieser Bestialität, seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht gesehen und auch nicht für möglich gehalten haben: Panzerschlachten, Schützengräben, Bombardierung ukrainischer Städte und Krankenhäuser, Massenverschleppungen, Folter, Genozid. Die Aggression forderte bisher geschätzt 120‒200.000 Tote, viele davon in der ukrainischen Zivilbevölkerung, und mündete in zahllosen Kriegsverbrechen und gigantischer Zerstörung. Es ist auch ein Krieg der Überraschungen. Es hat wohl niemand damit gerechnet, dass die Ukraine in der Lage sein werde, einem derartigen Angriff zu widerstehen.

Rudolphina: Wie konnte das der Ukraine entgegen aller Prognosen gelingen?

Wolfgang Mueller: Nicht zuletzt aufgrund eines beeindruckenden Widerstandsgeists und großer Opferbereitschaft der ukrainischen Bevölkerung und Streitkräfte. Die Menschen wissen, wofür sie kämpfen und was sie verteidigen: das Überleben ihres Staates, ihre Identität und Freiheit und die Freiheit ihrer Kinder. Dabei haben sie neben Mut und Selbstaufopferung auch Improvisationsgeist sowie taktische und strategische Fähigkeiten gezeigt. Aber es sind ihnen auch Fehler auf der Seite des Aggressors zugutegekommen. Und natürlich, last but not least, die Hilfsbereitschaft des Westens. Dazu muss man allerdings im Nachhinein sagen: Die militärische Hilfe kommt meistens spät und ist noch zu gering, um den Krieg beenden zu können. 

"Die Menschen wissen, wofür sie kämpfen und was sie verteidigen: das Überleben ihres Staates, ihre Identität und Freiheit und die Freiheit ihrer Kinder."
Wolfgang Mueller

Rudolphina: Nachher ist man immer klüger: Hätte man den Krieg verhindern können oder bis wann hätte man den Krieg verhindern können?

Wolfgang Mueller: Man hätte den Krieg wahrscheinlich bis zum Jahreswechsel 2021/22 verhindern können, vielleicht sogar noch bis eine Woche vor Kriegsbeginn. Eine Möglichkeit wäre es gewesen, die Ukraine durch die Aufnahme in die NATO oder ein anderes bi- oder multilaterales Bündnis abzusichern. Aber bekanntlich sind ja die Beitrittsambitionen der Ukraine – zuerst 2008 und dann 2015 – primär von Deutschland aus Rücksicht auf die Beziehungen zu Russland hintangestellt worden.

Rudolphina: Was lernen wir aus diesem Krieg über Europa?

Wolfgang Mueller: Es ist offenbar nicht gelungen, Russland durch faktische Zugeständnisse zu einem dauerhaft friedlichen Mitglied der Staatengemeinschaft zu machen – begleitet war dieser Versuch auch von einer enormen Steigerung der wirtschaftlichen Verflechtungen bis hin zur Abhängigmachung der eigenen Volkswirtschaften von Russland, einer Entwicklung, die bis in die 1970er Jahre zurückgeht. Die Politik, die Machtinteressen Russlands als de facto höherwertig zu behandeln als die Sicherheits- und Überlebensinteressen der Ukraine oder auch Georgiens, muss man als verfehlt bezeichnen. Es gibt heute – über 30 Jahre nach dem Ende des Staatskommunismus in Osteuropa, den friedlichen Revolutionen und dem Fall des Eisernen Vorhangs – nach wie vor zwei verschiedene Perspektiven Europas auf seinen Osten: einerseits die westeuropäische Perspektive, die von der Entspannungspolitik in den 1960er, 1970er Jahren und dem Prinzip "Wandel durch Handel", geprägt ist. Die Staaten Ostmitteleuropas und zum Teil auch Nordeuropas haben andererseits die Bedrohung durch Russland weiterhin stärker im Blick behalten. Sie sind, im Gegensatz zu den westlichen Gesellschaften, in ihrer staatlichen und gesellschaftlichen Entwicklung nicht im postheroischen Zeitalter ankommen – und werden das vielleicht auch nie.

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Russischer Imperialismus im Fokus der Geschichtswissenschaft

Viele Aspekte des Angriffskrieges Russlands – die genozidalen Aspekte, die Deportationen, die enorme Gewaltexplosion, auch die Vorstellung, dass eine benachbarte Nation nicht vollwertig sei, sondern der russischen Nation untergeordnet werden müsse – sind zutiefst imperialistische und kolonialistische Konzepte, die die Forschung in den kommenden 20 Jahren wahrscheinlich noch weiter beschäftigen werden. Auch die Wiederherstellung des Imperiums nach dem Zerfall des Zarenreiches durch die Sowjetunion wird stärker unter diesem Gesichtspunkt zu analysieren sein. Man spricht jetzt in der Forschung von einer erforderlichen Entkolonisierung der Geschichte Russlands und der Sowjetunion.

Rudolphina: Was ist das "postheroische Zeitalter" und worin äußert es sich?

Wolfgang Mueller: Wenn wir die Bereitschaft der Bevölkerung, den eigenen Staat, aber auch die Freiheit der eigenen Gesellschaft, nötigenfalls mit Waffen zu verteidigen, sozialwissenschaftlich untersuchen, so unterscheiden sich die Resultate zwischen Westeuropa und Osteuropa deutlich: In der durchschnittlichen westeuropäischen Gesellschaft liegt diese Verteidigungsbereitschaft bei 20 Prozent, in Staaten Osteuropas bei 60 Prozent. Und das ist ein signifikanter Befund, der sich auch in der Reaktion der verschiedenen europäischen Staaten auf den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine widerspiegelt, nämlich zum einen bei Hilfslieferungen im Bereich Rüstungstechnologie, zum anderen auch darin, welche Staaten früher Bereitschaft zeigten, die Beitrittsansuchen der Ukraine zur EU oder NATO zu unterstützen.

Rudolphina: Das heißt, die EU-Politik war in den vergangenen 30 Jahren von einer westeuropäischen Perspektive dominiert …

Wolfgang Mueller: Und heute sagen die Ostmitteleuropäer, zum Teil nicht ganz zu Unrecht, "wir haben es euch gesagt, aber ihr wolltet nicht auf uns hören, sondern habt uns als die Kalten Krieger bezeichnet ". Es wird eine Herausforderung für Europa sein, diese ostmitteleuropäische Perspektive auch tatsächlich stärker zu integrieren und mit Respekt anzuerkennen.

Rudolphina: Es gab ja in der Vergangenheit immer wieder Stimmen in Europa, die eine strategische Unabhängigkeit Europas vom nordatlantischen Bündnis eingefordert haben.

Wolfgang Mueller: Diese Forderungen erscheinen kurzfristig umso weniger realistisch, als über 50 Prozent der humanitären und vor allem der militärischen Unterstützung für die Ukraine von den USA kommen, die Ukraine ohne US-amerikanische Unterstützung also vermutlich nicht mehr existieren würde. Das kontinentale Westeuropa hat in den vergangenen 30 Jahren bis auf einzelne Ausnahmen sowohl militärisch als auch im strategischen Denken weitgehend abgerüstet. Es wird einen jahrelangen Prozess erfordern, das rückgängig zu machen. Mittelfristig wäre ein größerer europäischer Verteidigungsbeitrag vorteilhaft für Europas Sicherheit. 

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"Die Ukraine würde ohne US-amerikanische Unterstützung vermutlich nicht mehr existieren."
Wolfgang Mueller

Rudolphina: Hat das Friedensbedürfnis von 80 Prozent der Westeuropäer*innen nicht auch eine positive Seite und könnte die Erhöhung der Verteidigungsausgaben nicht zu einer Remilitarisierung der Welt führen?

Wolfgang Mueller: Das Ziel, den Frieden zu sichern, eint die meisten Menschen. Ein vor allem in Westeuropa zu findender Teil sagt: Frieden schaffen ohne Waffen. Wir haben jetzt gesehen, dass das unrealistisch ist. Der andere Teil sagt: Man braucht Waffen, um Frieden zu schaffen und zu sichern. Das heißt, man trifft die notwendigen Vorkehrungen, um einen möglichen Aggressor abzuschrecken. Das ist der Hintergrund der aktuellen Debatten über Investitionen in Sicherheit und Verteidigung etwa in der Bundesrepublik Deutschland und in abgeschwächter Art in der Republik Österreich, aber auch insbesondere der Beitrittsanträge von Finnland und Schweden zum Nordatlantischen Bündnis. Dass europäische Investitionen in die Sicherheit einen globalen Rüstungswettlauf auslösen, halte ich für unwahrscheinlich, da viele Entwicklungen regionalen oder sogar nationalen Dynamiken folgen: In den vergangenen 30 Jahren hat beispielweise Europa ab-, Russland aber dann wieder aufgerüstet.

Rudolphina: Das sind doch aber alles militärische Aufrüstungen?

Wolfgang Mueller: Man kann Frieden entweder sichern, indem die ganze Welt entmilitarisiert wird. Das erscheint relativ unrealistisch. Oder aber die Gesellschaften bereiten sich entsprechend vor und sind auch bereit, ihre Freiheit zu verteidigen. Es geht ja nicht darum, eine Regierung oder Fahne zu verteidigen, sondern die Freiheit und Sicherheit der eigenen Gesellschaft. Und ich denke, dass das durchaus legitim und ein Umdenken in westeuropäischen Gesellschaften hoch an der Zeit ist. Wenn eine Gesellschaft nicht bereit ist, für ihre Werte, ihre Freiheit und ihre Demokratie auch ein Mindestmaß an Verteidigungsbereitschaft aufzubringen, dann läuft diese Gesellschaft Gefahr, ihre Freiheit zu verlieren.

"Wenn eine Gesellschaft nicht bereit ist, für ihre Werte, ihre Freiheit und ihre Demokratie auch ein Mindestmaß an Verteidigungsbereitschaft aufzubringen, dann läuft diese Gesellschaft Gefahr, ihre Freiheit zu verlieren."
Wolfgang Mueller

Rudolphina: Seit Kriegsbeginn sind acht Millionen Menschen – jede*r fünfte der Bevölkerung – aus der Ukraine geflüchtet. Wenn wir an eine Zukunft nach dem Krieg denken, wie wird sich das Land vom Krieg erholen?

Wolfgang Mueller: Das wird vom Ergebnis des Krieges abhängen. Die Flucht betraf bisher vor allem Frauen und Kinder. Wir sehen, dass die Rückkehrbereitschaft der Menschen, die in den ersten Kriegsmonaten aus der Ukraine geflohen sind, sehr hoch ist. Es wurde bereits im vergangenen Sommer darüber berichtet, dass mehr aus der Ukraine Geflohene wieder zurückkehren, als weitere Menschen fliehen. Die Bereitschaft der Menschen, in ihrem Land zu leben, ihr Land zu verteidigen, aufzubauen, mitzugestalten, ist enorm groß. Sollten daher in der Ukraine friedliche, freie und sichere Zustände wiederhergestellt werden, gehe ich davon aus, dass die Ukraine für ihre eigene Bevölkerung und auch jene, die in den Westen gegangen sind, weiterhin ein attraktiver Wohnort ist. Allerdings wird es von westlicher Wiederaufbauhilfe abhängig sein.

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Buchtipps

Kerstin S. Jobst: Geschichte der Ukraine (Reclam)

Andreas Kappeler: Kleine Geschichte der Ukraine (C. H. Beck)

Serhii Plokhy: Das Tor Europas – Die Geschichte der Ukraine (Hoffmann und Campe)

Rudolphina: Und wenn Russland erfolgreich ist?

Wolfgang Mueller: Dann rechne ich damit, dass die Fluchtwelle enorm zunehmen wird, dass vielleicht 20 Millionen oder mehr versuchen werden, das Land zu verlassen. Wir dürfen nicht vergessen, dass aus den russländisch besetzten Gebieten von sehr vielen Kriegsverbrechen, Deportationen und Verschleppungen von Kindern berichtet wird. Dass dann Menschen nicht unter derartigen Bedingungen bleiben wollen, wenn ihr Kampf sich als erfolglos herausstellen würde und sie selbst unter Unterdrückung und Fremdherrschaft geraten würden, erscheint mir sehr nachvollziehbar.

Rudolphina: Zurück an die Universität Wien. Im vergangenen Wintersemester hat Ihr Institut die "Geschichte der Ukraine" im Rahmen einer Ringvorlesung behandelt. Ihr Fazit dieser Auseinandersetzung?

Wolfgang Mueller: Die von Kerstin Susanne Jobst konzipierte und organisierte Ringvorlesung stieß auf riesiges Interesse. Obwohl die Ukraine nach dem Zerfall des mittelalterlichen Reiches von Kiew bis 1918 kein souveräner Staat war, lassen sich Konturen ihrer Identitätsbildung klar herausarbeiten. Im 17. Jahrhundert gibt es durch den „Kosaken-Staat“ Ansätze in diese Richtung und zwar nicht nur mit einer klar fassbaren Identität der Menschen, sondern auch mit proto-demokratischer politischer Partizipation. Die Kosaken sahen sich als freie Krieger, die ihr Oberhaupt selbst wählten. Wo gibt es das schon in Europa im 17. Jahrhundert? Um 1710 brachte der Kosaken-Hetman Pylyp Orlyk eine Art Verfassung mit Gewaltentrennung zu Papier – fast 40 Jahre, bevor der Vater der Gewaltenteilung in der politischen Philosophie, Montesquieu, diesen Gedanken formuliert hat.

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Eckdaten der Entstehung der Ukraine

8. Jh. Ansiedelung normannischer Waräger ("Rus")

882 Kiew wird Hauptstadt der Rus ("Kiewer Rus")

988 "Taufe der Rus", Christianisierung

1240 Mongolensturm, Zerstörung Kiews, Ende der Kiewer Rus

1253 Krönung des Fürsten von Galizien-Wolhynien zum König der Rus

1349 Aufteilung von Galizien-Wolhynien auf Polen und Litauen

1441 Gründung des Tataren-Khanats der Krim

1569 Realunion von Polen-Litauen, ukrainisches Territorium (außer Krim) Teil der polnischen Krone

1648 Formierung des Kosaken-Hetmanats aus dem Saporoger Kosakenheer

1667/1686 Aufteilung des Hetmanats zwischen Polen und Russland, Annexion Kiews durch Russland

1764 Auflösung des Hetmanats durch Zarin Katharina II, Bildung des Gouvernements Neurussland in der heutigen Ostukraine, Ansiedlung russischstämmiger Kolonist*innen.

1783 Annexion des Khanats der Krim durch Zarin Katharina II 

1795 Heutige Westukraine aufgeteilt zwischen Zaren- und Habsburgerreich

2. Hälfte 19. Jhdt. Aufkommende ukrainische Nationalidee

1876 Verbot ukrainischsprachiger Bücher im Zarenreich

1917-1918 Zerfall des Zarenreiches, Ukrainische Unabhängigkeitserklärung 

1917-1921 Sowjetisch-Ukrainischer Krieg, Sowjetrussland erobert die Ukraine

1922 Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik wird Teil der Sowjetunion

1991 Unabhängigkeit der Ukraine von der Sowjetunion

2004 „Orange Revolution“: Nach Massenprotesten gegen Wahlfälschungen gewinnt der prowestliche Präsidentschaftskandidat Juschtschenko die Wiederholungswahl

2013-2014 "Euromaidan-Revolution": Massenproteste zur Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU führen zur Flucht und Absetzung des prorussischen Präsidenten Janukowytsch

2014-2022 Russländische völkerrechtswidrige Besetzung und Annexion der Krim sowie Militärintervention in der Ostukraine, der Donbasskrieg beginnt

2022 Umfassende Invasion Russlands in der Ukraine

Rudolphina: Welchen Einfluss hat das auf die heutige Identität der Ukraine?

Wolfgang Mueller: Es hat wohl einen Einfluss auf die Frage, woher diese Fähigkeit eines Landes kommt, sich gegenüber einem Aggressor, dessen Bevölkerung mehr als dreimal so groß ist, zu verteidigen, dessen Armee als eine der stärksten Armeen der Welt bezeichnet wurde. Denn strategische Fehler des Aggressors allein erklären noch nicht den enormen Widerstandsgeist der Bevölkerung, im städtischen Bereich, im ländlichen Bereich, jung, alt, 20-jährige Soldat*innen, 70-jährige Bäuer*innen.

"Strategische Fehler des Aggressors allein erklären noch nicht den enormen Widerstandsgeist der Bevölkerung."
Wolfgang Mueller
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Vielleicht können wir uns dem aber annähern, wenn wir die Ukraine als eine Region begreifen, die schon in der Vergangenheit lange Zeit das "Land der Freien" gewesen ist und aus der Geschichte heraus über Jahrhunderte eine Art Identitätsformierung durchgemacht hat, die sie eindeutig unterscheidet von Russ*innen und die insbesondere in den vergangenen 30 Jahren zu einer gesamtstaatlichen Identität geworden ist. Durch die beiden Revolutionen 2004 und 2013 und die folgenden Reformen hat auch die politische Freiheit wieder zugenommen, die laut Indices dreimal höher als in Russland ist.

Rudolphina: In den Medien hört man immer wieder, dass die Ukraine immer gespalten sei zwischen dem westlichen Teil, der pro-westlich ist, und dem östlichen Teil, der pro-russländisch ist.

Wolfgang Mueller: Das ist nicht ganz falsch gewesen. Allerdings ist messbar, dass das seit spätestens 2014 nicht mehr der Fall ist. Die sich festigende Identität und Freiheit spielen hier eine Rolle. Auch russischstämmige und russischsprachige Ukrainer*innen bekennen sich in ihrer überwiegenden Mehrheit zur Ukraine als ihrer Heimat und kämpfen für deren Fortbestand, selbst im russischsprachig dominierten Donbass lehnte die Bevölkerung in Umfragen mehrheitlich einen Anschluss an Russland ab. Und all diese Dinge können aus der historischen Perspektive wohl besser erfasst werden, um damit einen Schritt in Richtung des Begreifens dieses zentralen, europäischen Landes zu gehen.

© Barbara Mair
© Barbara Mair
Wolfgang Mueller ist Professor für Russische Geschichte an der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät und stellvertretender Leiter des Instituts für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien. Er forscht unter anderem zur sowjetischen Geschichte, dem Kalten Krieg, der Diplomatiegeschichte sowie der Geschichte des Politischen Denkens in Russland.