Die vergessene Krise: Klima im Schatten von COVID-19
Rudolphina: Seit mehr als einem Jahr hat COVID-19 die Weltbevölkerung fest im Griff. Parallel schreitet die Klimakrise scheinbar ungebremst voran. Wie stehen sich die beiden Krisen gegenüber?
Ulrich Brand: Die Klimakrise kann mit der COVID-19 Krise nur bedingt verglichen werden. Gesellschaftliche Krisen sind dann manifest, wenn ganz rasch das Gewohnte wegbricht. Die Pandemie ist ein plötzlicher Schock und gefährdet jede*n ganz unmittelbar. Es gibt angesichts der enormen Mobilisierung von Ressourcen – insbesondere bei der Herstellung von Impfstoffen – durchaus eine Perspektive, dass die Krise überwunden oder zumindest signifikant eingedämmt werden kann. Bei allen aktuell auftretenden wirtschaftlichen, sozialen und psychischen Problemen gibt es eine Vorstellung, dass vieles wieder wird, wie es vor der Pandemie war. Die Klimakrise hingegen entwickelt sich schleichend, die Katastrophe kommt erst später. Es geht um Kipppunkte, an denen Veränderungen, wie das Auftauen der Permafrostböden mit einer gewaltigen Freisetzung von Methangasen oder die Abschwächung des Golfstroms, unvorhersehbare Eigendynamiken entwickeln. Es geht um nicht-reversible, tiefgreifende Veränderungen im Erdsystem. Manche Kolleg*innen sprechen mittlerweile nicht mehr von anstehenden, dauerhaften Krisenzeiten, sondern von einem aufziehenden Katastrophenzeitalter angesichts des drohenden Kollapses bestimmter Erdsystemfunktionen. Das betrifft auch gesellschaftliche Systeme.
Rudolphina: Wie würden Sie die politische Handlungsbereitschaft im vergangenen Jahr zu den Themen Corona und Klimakrise bewerten?
Brand: Es stellt sich die Frage: Wie viele Ressourcen bringen Politik und Gesellschaft zur Krisenbewältigung auf? Die sinnvollen Eindämmungsmaßnahmen während der COVID-19 Krise führten zu dramatischen Einschränkungen wirtschaftlicher, kultureller, politischer und alltäglicher Abläufe. Entscheidungsträger*innen mussten angesichts der rasch steigenden Infektionszahlen im März 2020 schnell reagieren, und die Politik ist seither im Modus der notwendigen Abwägung und setzt enorme Ressourcen ein, um viele negative Auswirkungen einzudämmen. Wir wissen, wie ernst die Klimakrise ist – die Bedrohung ist aber für viele Menschen zu abstrakt. Tief in der Gesellschaft verankerte Produktions- und Konsummuster treiben den Ressourcenverbrauch und den Treibhausgasausstoß voran. Einzelne Unternehmen oder Konsument*innen verbinden regelmäßiges Autofahren oder massenhaften Fleischkonsum nicht mit der Klimakrise. Was hinzukommt: Die Politik traut sich nicht, weitreichendere Schritte beim Thema Klimaschutz zu setzen, und das wollen auch die mächtigen Verbände nicht.
Rudolphina: Bei der Bewältigung der Pandemie scheinen politische Akteur*innen besser voran zu kommen. Welchen Fehler sollten sie bei der Bewältigung der Klimakrise nicht machen?
Brand: Was mich im Verlauf des letzten Jahres und in Bezug auf die Klimakrise pessimistisch stimmt, ist die vollständig fehlende internationale Solidarität in Bezug auf die Krisenpolitiken. Ich nenne nur die globale Verteilung von Impfstoffen als Beispiel. Selbst in der EU bedurfte es dazu harter Debatten. Jenseits davon hat sich jede Idee einer Staatengemeinschaft blamiert, die sich zumindest ernsthaft bemüht, eine gemeinsame Lösung für die Pandemie zu finden. Auch in den parteipolitischen und Regierungsdiskursen war in Bezug auf eine internationale Zusammenarbeit in Österreich nichts zu finden. Das sind keine guten Bedingungen, um jenseits von Sonntagsreden die gemeinschaftliche Bearbeitung der Klimakrise und ihrer Folgen anzugehen.
Rudolphina: Zu Beginn der Pandemie forderten Sie mehrmals einen nötigen grünen Wiederaufbau der Wirtschaft und Subventionen, die an Klimaziele gebunden werden müssen. Was ist daraus geworden?
Brand: Es findet durchaus ambitionierte Umweltpolitik statt. Denken wir etwa an den Europäischen Green Deal, den hohen Anteil für klimapolitische Maßnahmen im Europäischen Wiederaufbauplan oder an die vielen Initiativen des österreichischen Umweltministeriums. Das hat etwas mit den erdrückenden wissenschaftlichen Einsichten, aber auch mit der starken Präsenz des Themas in der Öffentlichkeit zu tun. Was in den letzten Jahren unter dem Stichwort "sozial-ökologische Transformation" diskutiert wird, braucht einen viel grundlegenderen Veränderungsbedarf. Ein Beispiel: Hier reicht die Umstellung auf Elektro-Automobilität allein nicht, sondern der Ausbau der Öffis und Rückbau des autozentrierten Mobilitätssystems muss vorangetrieben werden. Das Thema ist im öffentlichen Diskurs angekommen. Was nun genau daraus wird, müssen wir abwarten.
Rudolphina: Was sind die großen Herausforderungen der nächsten Jahre?
Brand: Ich schließe mich dem breiten wissenschaftlichen Konsens an: Es bedarf rascher, weitreichender und historisch beispielloser Veränderungen, um bis Ende dieses Jahrhunderts die globale Erwärmung bei durchschnittlich 1,5 Grad Celsius im Vergleich zum Niveau von 1850 zu halten. Derzeit steuern wir auf etwa das Doppelte zu. Es muss in möglichst kurzer Zeit die fossile Energiebasis der Wirtschaft überwunden werden. In Hinblick auf die Klimakrise ist zudem der dramatisch ansteigende, globale Ressourcenverbrauch ein viel zu selten kommuniziertes Thema. Wir müssen die Grenzen unseres Planeten kennen und dürfen diese nicht überschreiten. Unsere Produktions- und Lebensweise muss grundlegend umgebaut werden, hin zu ganz anderen Formen der Ernährung, Mobilität, des Wohnens. Hier geht es um aktive Selbstbegrenzung. Das wird mit erheblichen Konflikten einhergehen, v.a. mit den kapitalstarken Gruppen, die vom bestehenden System profitieren, aber auch mit Beschäftigten und Gewerkschaften. Insbesondere den kapitalistischen Wachstumsimperativ sehen mein Team und ich als ein zentrales Problem. Viele Studien weisen darauf hin, dass eine absolute Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch nicht stattfindet. Also ist auch "grünes Wachstum" ein Problem.
Rudolphina: Wie sieht Ihre Vision einer grünen, klimagerechten Zukunft aus?
Brand: Ich wünsche mir einen Transformationsprozess, der gerecht vonstatten geht und nicht auf dem Rücken derer ausgetragen wird, die ohnehin wenig Einfluss und Alternativen haben. Der Staat muss seine Abhängigkeit vom Wirtschaftswachstum überwinden, die Sozialpartnerschaft muss sich ökologisieren und am Entscheidungsprozess teilnehmen. Wir sollten aus der Corona-Pandemie lernen, dass die Daseinsvorsorge wichtiger ist als immer größere Autos oder billige Flugreisen. Und wenn wir Gerechtigkeit global denken, dann brauchen wir andere Regeln. Ich wünsche mir eine Weltwirtschaft, in der nicht die Interessen der Investor*innen und Vermögenden in tendenziell reichen Ländern dominieren, sondern die Länder im globalen Süden, die dortige Bevölkerung und Naturschutz einen hohen Stellenwert bekommen.
Rudolphina: Vielen Dank für das Interview! (lk)
Er leitet den Forschungsverbund Lateinamerika an der Universität Wien. Sein mit Markus Wissen im Jahr 2017 veröffentlichtes Buch "Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus" schaffte es auf die Spiegel-Bestsellerliste und wird aktuell in zehn Sprachen publiziert. Im Jänner erschien es auf Englisch mit einem neuen Kapitel zur COVID-19 Krise.