"Die Pandemie zeigt die Stellung und Bedeutung von Migrant*innen"
Rudolphina: Was zeigt die Covid-Migration News Database, die Sie mit Ihrer Arbeitsgruppe gestartet haben?
Patrick Sakdapolrak: In der Datenbank werden Zeitungsberichte zu den Auswirkungen von COVID-19 auf unterschiedliche Dimensionen von Migration zusammengetragen, in acht Themenbereiche kategorisiert und verschlagwortet. Über diese Datenbank, die natürlich kontinuierlich aktualisiert wird, können beispielsweise Artikel zu bestimmten Ländern, bestimmten Typen von Migration (z.B. Binnenmigration) oder bestimmten Aspekten von Migration (z.B. Auslandsüberweisungen in Heimatländer) gesucht werden, auch in Kombination. Die Artikel identifizieren wir über Google News Search. Wir fokussieren uns vor allem auf englischsprachige Berichte.
Rudolphina: Welchen Zweck soll diese Datenbank erfüllen?
Sakdapolrak: Mit der Datenbank verfolgen wir das Ziel, die vielfältigen Auswirkungen zu dokumentieren, die COVID-19 und die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie auf Migrant*innen und Migrationssysteme haben. Damit soll auch eine Sensibilisierung für das Thema geschaffen werden. Ich sehe die Datenbank auch als öffentliches Gut, eine Dienstleistung, die wir als Teil der Universität der interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung stellen und die von dieser Öffentlichkeit genutzt werden kann.
Rudolphina: Grundsätzlich gefragt: Welche Auswirkungen hat COVID-19 auf Migration?
Sakdapolrak: Migration wird in der Pandemie vor allem als Risikofaktor für die Ausbreitung von COVID-19 betrachtet und daher zielen viele Maßnahmen darauf ab, Migration einzuschränken. Es wird geschätzt, dass die internationale Migration in OECD-Ländern im ersten Halbjahr 2020 um 46 Prozent zurückgegangen ist. Allein in Indien hat der Lockdown zu einer massiven Rückwanderung von Binnenmigrant*innen von den Städten in die ländlichen Heimatregionen geführt. Aber die Pandemie wirkt sich nicht nur auf die Migrationsbewegungen aus, sondern zeigt auch die Bedeutung von Migration sowohl für die Zielländer als auch die Herkunftsländer. Während dies in Österreich vor allem an der Diskussion über die ausländischen Pflegekräfte deutlich wird, werden in vielen Ländern des Globalen Südens die Auswirkungen der zurückgehenden Rimessen – der Rücküberweisungen von Migrant*innen – thematisiert.
Rudolphina: Was zeigen uns diese Diskussionen?
Sakdapolrak: Die Pandemie zeigt die prekäre und verwundbare Stellung von Migrant*innen weltweit: Migrant*innen sind disproportional stark exponiert gegenüber COVID-19, wie Berichte über Ansteckungscluster in der deutschen Fleischindustrie oder Wohnheimen für Arbeitsmigrant*innen in Singapur zeigen. Migrant*innen sind aber auch besonders stark von den ökonomischen Folgen betroffen, da sie oft in betroffenen Sektoren wie Tourismus oder Gastronomie beschäftigt sind und häufig keine Absicherung über soziale Sicherungssysteme genießen. Diese unterschiedlichen sozialen und räumlichen Auswirkungen von COVID-19 auf Migration versuchen wir mit der Datenbank abzubilden.
Rudolphina: Kann man aus jetziger Sicht abschätzen, wie COVID-19 Migrationsbewegungen beeinflussen wird?
Sakdapolrak: Es ist schwer abzuschätzen, welche längerfristigen Auswirkungen die Pandemie auf Migration haben wird. Meiner Einschätzung nach werden nach dem hoffentlich baldigen Ende der Pandemie die Reise- und Mobilitätsrestriktionen wieder abgebaut, wodurch sich Migrationsbewegungen wieder normalisieren könnten. Es ist aber noch nicht absehbar, welche Auswirkungen die Pandemie z.B. auf Vorbehalte gegenüber Migrant*innen in Politik und Gesellschaft haben wird – in Zeiten von wachsenden Nationalismen kann das zu verstärkten Kontrollen und Zugangsbeschränkungen führen. Unklar ist jedoch vor allem, wie sich die ökonomischen Folgen der Pandemie auf Migration auswirken: Wie lange wird es dauern, bis sich die verschiedenen Sektoren erholen und Arbeitskräfte wieder benötigt werden? Wie lange brauchen die Migrant*innen, um die Folgen der Pandemie zu bewältigen? Inwieweit wird Migration auch eine Antwort von verarmten Haushalten auf die globale Rezession sein? Hier wartet noch viel Arbeit auf die Forschung.
Rudolphina: Was lernen Sie als Wissenschafter aus diesem Projekt?
Sakdapolrak: Das Projekt ist auch ein Resultat der Auswirkungen der Pandemie auf die Art und Weise, wie ich Wissenschaft betreibe – normalerweise sind für die empirische Arbeit Reisen und soziale Interaktionen notwendig. Da das "Feld" für unsere Forschung nicht erreichbar und zugänglich war und ist, haben wir in der Arbeitsgruppe nach alternativen Wegen gesucht, einen produktiven Beitrag zu dem Thema zu leisten, das uns wissenschaftlich umtreibt.
Rudolphina: Vielen Dank für das Gespräch! (bw)