Autismusforschung

Jedes Gehirn ist anders

16. Mai 2022 von Sarah Nägele
Unsere Gesellschaft hat klare Vorstellungen, wie sich prosoziales Verhalten und Empathie ausdrücken. Neurowissenschafterin Giorgia Silani hat erforscht, dass Menschen mit Merkmalen wie Autismus oder Alexithymie andere Ausdrucksformen verstehen.
„Aus neurowissenschaftlicher Sicht gibt es keine Trennung zwischen dem Gehirn und dem Verstand“, sagt Neurowissenschafterin Giorgia Silani: „Das ist im Grunde eins.“ © iStock

Autismus ist immer noch mit vielen Vorurteilen behaftet. Das Bild des emotional kalten, distanzierten Genies wurde jedoch längst widerlegt – unter anderem dank Giorgia Silana, Neurowissenschafterin an der Universität Wien. Die jüngste Arbeit der Autismusexpertin mit italienischen Wurzeln konzentrierte sich auf die neuronalen Grundlagen von sozialer Kognition und sozialen Emotionen, insbesondere Empathie und prosozialem Verhalten.

Soziale Belohnungen: Warum wir uns verhalten, wie wir uns verhalten

Die Theorie der sozialen Motivation des Autismus wurde vor einigen Jahren aufgestellt: Sie besagte, dass autistische Menschen soziale Stimuli deshalb anders verarbeiten, weil sie eine andere Motivation haben, sich auf soziale Interaktionen einzulassen. Da autistische Menschen von Geburt an wenig Interesse an sozialen Stimuli zeigen, so schlussfolgerte man, dann müssen sie auch weniger motiviert sein, sich um soziale Belohnungen ("social rewards") zu bemühen. Und das wiederum sei der Ausgangspunkt einer Ereigniskette, die letztlich zur Symptomatik führe. "Rückblickend lag das Problem der Theorie im Ansatz, der gewählt wurde, um diesen Mangel an sozialer Motivation zu messen", so die Psychologin.

Um zu erklären, warum sie einen anderen Ansatz gewählt hat, erzählt Giorgia Silani zuerst, wie unser Verhalten generell motiviert wird: zum einen durch sogenannte "primäre Belohnungen" wie etwa Nahrung, und zum anderen durch "soziale Belohnungen", dazu gehören zum Beispiel Anerkennung, Unterstützung oder auch – noch grundlegender – zwischenmenschliche Berührungen.

Die Hirnforschung unterscheidet klar zwischen dem "Wollen" und dem "Mögen" von primären Belohnungen. Im Bereich der sozialen Belohnungen wurde diese Unterscheidung jedoch bisher nicht klar gezogen, insbesondere was primäre soziale Belohnungen wie Berührungen, betrifft. "Ich wollte herausfinden, ob es diese zwei neurobiologischen Komponenten von Wollen und Mögen auch bei sozialen Belohnungen gibt", erklärt Silani den Ausgangspunkt ihres WWTF-Projekts Wanting and Liking: The Neurochemical and Neurocognitive Basis of Primary and Social Reward in Humans: "Niemand hat bisher soziale Freude gemessen, aber eine meiner Theorien war, dass autistische Menschen zwar vielleicht nicht nach sozialer Belohnung streben, sich aber dennoch daran erfreuen. Also haben wir das untersucht." Und die erwähnte Theorie widerlegt: "Autistische Menschen haben denselben Drang nach sozialer Belohnung und können soziale Interaktionen genießen."

Zwei Hände, die sich berühren
Silanis WWTF-Projekt zeigte, dass auch Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung nach sozialer Belohnung streben und Freude an sozialen Interaktionen verspüren. © Pexels/Juan Pablo Serrano Arenas

Der Schlüssel zu den neuen Ergebnissen war die Methode. "Es gibt viele verschiedene Formen von sozialer Belohnung", erklärt Silani: "Man kann beispielsweise messen, wie sehr sich jemand über ein Smiley oder ein 'Like-it' freut." Das sind jedoch relativ abstrakte Formen von Anerkennung. "Wir wissen, dass die Maschinierie des 'autistischen Gehirns' mit abstrakten Konzepten Schwierigkeiten hat", so die Wissenschafterin: "Also haben wir mit Berührungen als einer grundlegenden Form sozialer Belohnung gearbeitet." Und die Untersuchungen haben gezeigt, dass autistische Menschen genauso auf Berührungen reagieren wie neurotypische Menschen. "Das war hochinteressant und führte unmittelbar zur nächsten Frage", erzählt die Expertin: "Sind autistische Menschen für bestimmte Formen sozialer Belohnung deshalb nicht empfänglich, weil diese 'sozial' sind, oder aber weil sie zu abstrakt sind?"

Semesterfrage: Was bestimmt menschliches Verhalten?

Giorgia Silani: Aus neurowissenschaftlicher Sicht gibt es keine Trennung zwischen dem Gehirn und dem Verstand. Dieser Annahme zufolge ist der menschliche Körper ein System, das Informationen verarbeitet, und das löst Handlungs- und Entscheidungsmuster aus, die biologisch begründet sind. Das Gehirn fungiert als zentrale Schaltstelle – es ist kein isoliertes System, das im Körper eingebettet ist. Es empfängt auch Informationen von anderen Körperteilen. Die Informationen, die das Gehirn überträgt, prägen das menschliche Verhalten.

Alexithymie: Gefühlsblindheit und Empathie

Viele autistische Personen sind alexithym – "gefühlsblind" – und haben Probleme, ihre eigenen bzw. die Gefühle von anderen zu lesen. Giorgia Silani bechäftigt sich seit ihrem Doktoratsstudium in London mit diesem Phänomen. "Menschen mit dem Persönlichkeitszug  Alexithymie nehmen Gefühle meist nur auf körperlicher Ebene wahr, beispielsweise in Form von Bauch- oder Kopfschmerzen", erklärt sie. Die Empathie-Forscherin und ihr Team konnten zeigen, dass gefühlsblinde Personen häufig auch Probleme damit haben, die Gefühle anderer Menschen einzuordnen, was dazu führt, dass sie sich nicht gut in andere einfühlen können.

Die vermeintlichen Empathie-Defizite autistischer Menschen seien also nicht dem Autismus zuzuschreiben, sondern vielmehr der Alexithymie. "Das hat vorher noch nie jemand untersucht", erklärt Silani. Seit sie 2008 gemeinsam mit Kolleg*innen dazu publizierte, hat sich viel getan: Die Alexithymie-Theorie zum Autismus wurde aufgestellt und wird heute mehr und mehr berücksichtigt, wenn über Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung gesprochen wird: "Langsam erkennt man, dass Autismus keine emotionale Störung ist, sondern von der Symptomatik und anderen Persönlichkeitsmerkmalen abhängt."

Je mehr nackte Haut, desto weniger Empathie

Gemeinsam mit einem internationalen Team untersuchte Silani den Zusammenhang zwischen dem sozialpsychologischen Konzept der sexuellen Objektifizierung und Empathie. Die Wissenschafter*innen haben dazu die Gehirnaktivität männlicher und weiblicher Proband*innen in Bezug auf die Emotionen unterschiedlich dargestellter Frauen gemessen. Sie fanden heraus, dass sich durch einfaches Modifizieren der Kleidung, die SchauspielerInnen trugen (mit mehr oder weniger sichtbaren Körperteilen/Haut), die empathischen Gefühle der Betrachter*innen veränderten. So war die Empathie für Frauen, die sexuell objektifiziert dargestellt wurden, geringer im Vergleich zu personifizierten Frauen. Die Abnahme der empathischen Gefühle ging mit einer verringerten Aktivität in den mit Empathie verbundenen Gehirnarealen einher. 

Mehr zum Forschungsprojekt "Neuronale Korrelate von sexueller Objektifizierung"

"Unsere Gesellschaft kann sich Vielfalt leisten"

Giorgia Silani möchte mit ihrer Forschung Bewusstsein für die Rolle biologischer Prozesse in unserem täglichen Leben schaffen. Ihr aktuelles Projekt "Music for Autism" erkundet den Zusammenhang zwischen Autismus-Spektrum-Störungen und Musik. Musiktherapie hat bei Kindern zu erfolgversprechenden Ergebnissen geführt, was die soziale Kommunikation und zwischenmenschliche Beziehungen angeht. Allerdings ist ein besseres Verständnis der dahinter liegenden Funktionsmechanismen bei autistischen Kindern nötig. Im Projekt werden die Auswirkungen von jeweils zwölf Wochen Musiktherapie bzw. spielerischer, therapeutischer Intervention bei einer Gruppe autistischer Kinder verglichen. Vor und nach jeder Sitzung werden die Kinder im Hinblick auf neurobehaviorale und biologische Faktoren wie soziale Kommunikationsfähigkeiten, Partizipation und Gehirnkonnektivität untersucht.

Silani will das Bewusstsein für Autismus fördern und Menschen aus dem Spektrum empowern; sie fordert aber auch mehr Bewusstsein für andere Persönlichkeitsmerkmale. Ein möglicher Schritt auf diesem Weg wäre es, das Konzept, dass jedes Gehirn anders ist, die Neurodiversität, auch im Schulbereich zu berücksichtigen. "Es ist wichtig, dass sich Schulklassen aus unterschiedlichen Kindern zusammensetzen, dass u.a. auch autistische Kinder dabei sind." Empathiefähigkeit hängt mit biologischen Faktoren zusammen, davon, wie sehr man jemanden mag, wie sehr man sich in seinem Gegenüber wiederfindet – "wir müssen uns überlegen, wie wir damit umgehen."

Auf diese Weise wären wir als Gesellschaft besser gewappnet, dem fehlenden Verständnis füreinander entgegenzuwirken. "Es ist wichtig, dass wir nicht versuchen, alle Menschen gleich zu machen", sagt Neurowissenschafterin Giorgia Silani abschließend: "Unsere Gesellschaft kann sich Vielfalt leisten." (sn)
 

Die Originalfassung dieses Artikels ist im Rudolphina-Magazin auf Englisch erschienen.

© Universität Wien
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Giorgia Silani ist assoziierte Professorin am Institut für Klinische und Gesundheitspsychologie an der Fakultät für Psychologie der Universität Wien. Sie ist ausgebildete Psychologin, klinische und soziale Neurowissenschafterin und Psychotherapeutin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind soziale Kognition, soziale Emotionen und Autismus.