Flucht und Asyl

"Das Verlassen der eigenen Kultur bedeutet Trauer"

14. Oktober 2020 von Sarah Nägele
1,2 Millionen Menschen in Österreich sind von psychischen Erkrankungen betroffen, Geflüchtete und Asylwerber*innen haben ein besonders hohes Risiko. Die Psychologin Brigitte Lueger-Schuster entwickelt mit ihrem Team ein Programm, um die psychosoziale Versorgung afghanischer Flüchtlinge zu verbessern.
Einsamkeit, Unsicherheit und Alltagsrassismen zählen zu den typischen Stressoren, mit denen Geflüchtete kämpfen. © Pexels/Luis Dalvan

Geflüchtete und Asylwerber*innen leiden nicht nur häufig unter posttraumatischen Belastungsstörungen, sie sind auch sogenannten Postmigrationsstressoren wie Einsamkeit, Unsicherheit, finanziellen Sorgen und Alltagsrassismen ausgesetzt. "Damit kämpfen alle", ist sich Uni Wien Traumapsychologin Brigitte Lueger-Schuster sicher: "Das Verlassen der eigenen Kultur und des Vertrauten bedeutet Abschied und Trauer." Auch psychische Probleme wie Depressionen oder Angststörungen treten verstärkt auf.

Fokus posttraumatische Belastungsstörung

Ein Großteil der vorhandenen Therapiemanuale fokussiert sich auf die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), die genannten Stressoren werden wenig berücksichtigt. Lueger-Schuster und ihr Team möchten die Lücke schließen, indem sie mit der Studie "Eine psychologische Kurzintervention für afghanische Geflüchtete in Österreich" erstmals die Wirksamkeit eines psychologischen Behandlungsmanuals für afghanische Geflüchtete überprüfen.

Das Manual kommt von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und wurde entwickelt, um Laien in großen Flüchtlingsunterkünften zu trainieren, Betroffenen zu helfen. "Wir haben es um die post-migration living difficulties erweitert und für lokale Bedürfnisse adaptiert", erklärt Lueger-Schuster vom Institut für Klinische und Gesundheitspsychologie. Die Forscher*innen führen das adaptierte Manual "Problem Management Plus, PM+" mit Betroffenen durch und erstellen daraus Ableitungen für Psycholog*innen.

Traumaaufarbeitende Psychotherapie

Migrant*innen, die nach Österreich kommen, durchlaufen zwar einen psychologischen Grundcheck, der sei aber verschwommen und werde oft laienhaft ausgeführt, so Lueger-Schuster. Bei den Wiener Institutionen für traumaaufarbeitende Psychotherapie habe man derzeit mit Wartezeiten von bis zu 18 Monaten zu rechnen, den Schritt dorthin müssen Betroffene selbst unternehmen. Unterstützt werden sie dabei oft von versorgenden Programmen wie Heyamat, ESRA oder SINTEM, mit denen Lueger-Schuster und ihr Team kooperieren. "Diese vermitteln uns Geflüchtete, die auf den Wartelisten stehen", erklärt die Psychologin. Die Chance, dass diejenigen, die sich bereit erklären, in die Behandlungsgruppe kommen, liege bei 50 Prozent. 

Portraitfoto von Brigitte Lueger-Schuster
Brigitte Lueger-Schuster vom Institut für Klinische und Gesundheitspsychologie der Universität Wien möchte den Geflüchteten Werkzeuge zur Verfügung stellen, um Gewesenes und Aktuelles besser zu bewältigen. © Petra Schiefer

Schnell, effizient und praktikabel

Im Zuge der Behandlung finden sechs 90-minütige Sitzungen in einem wöchentlichen Rhythmus statt. Jede Sitzung behandelt ein bestimmtes Thema. Das Ziel: Werkzeuge mitgeben, um Gewesenes und Aktuelles besser zu bewältigen. "Das sind zum Teil Übungen zum Entspannen oder um Freunde zu finden", erzählt Lueger-Schuster: "Positive Dinge, die das Leben erleichtern."

Es soll schnell gehen, effizient sein und gesellschaftlich angenommen werden. Fünf der sechs Themen sind von der WHO vorgegeben, für die sechste Einheit bietet das Programm zwei Möglichkeiten, aus denen die Klient*innen wählen. Nach den Sitzungen findet ein Diagnostiktermin statt. Die Teilnehmer*innen der Kontrollgruppe kommen zum Zeitpunkt "Null" sowie nach sieben Wochen zur Diagnose. "So kann man herausfinden, ob es einen natürlichen Erholungsprozess gibt", erklärt die Psychologin. 

Positiver Zulauf trotz hoher Barrieren

Afghanische Geflüchtete seien oft nicht alphabetisiert. "Sie kommen als junge Erwachsene nach Österreich und stehen unter dem Druck, schnell die deutsche Sprache zu lernen, sind aber oft erschöpft und unkonzentriert. So äußern sich unter anderem die Symptome der Traumafolgestörungen", so Lueger-Schuster. Die Geflüchteten müssen unter unsicheren Bedingungen verstehen, wie die komplexe, österreichische Gesellschaft funktioniert. Erschwerend komme hinzu, dass psychische Erkrankungen in der afghanischen Gesellschaft tabuisiert sind. "Deshalb sprechen wir davon, Probleme zu lösen – das nennt sich dann 'Problem Management Plus'", erklärt die Psychologin: "Das tut jeder gern."

Lueger-Schuster ist überrascht von dem positiven Zulauf. "Viele kommen aktiv auf uns zu", erzählt sie. Daran zeige sich aber auch die große Lücke psychosozialer Versorgung in Wien. Nach dem Abschluss der Studie steht das Manual Psycholog*innen und Psychotherapeut*innen als Onlinetrainingsmodul zur Verfügung. "Man kann es downloaden, anwenden und dadurch informiert oder empowert sein", fasst Lueger-Schuster zusammen. Und: "Das Tool ist nicht spezifisch auf die afghanische Bevölkerung ausgerichtet." Letztendlich könne man damit alle Bevölkerungsgruppen mit Flucht- und Migrationshintergrund besser unterstützen.

Das Projekt "Psychologische Kurzintervention für afghanische Geflüchtete" wird vom FWF mit einer Laufzeit von 2019 bis 2023 gefördert und läuft unter der Leitung von Univ.-Prof. Dr. Brigitte Lueger-Schuster vom Institut für Klinische und Gesundheitspsychologie der Universität Wien.

© Petra Schiefer
© Petra Schiefer
Brigitte Lueger-Schuster ist Professorin für Psychotraumatologie am Institut für Klinische und Gesundheitspsychologie der Universität Wien. Sie forscht zu den Themen psychosoziale Folgen von traumatischem Stress, Bewältigungsstrategien und Resilienz.