Gesundheit, Gerechtigkeit und Künstliche Intelligenz

Ist Gesundheit Verhandlungssache?

10. Dezember 2024 Gastbeitrag von Jörg Menche
In seinem Gastbeitrag beleuchtet Jörg Menche vom Ludwig Boltzmann Institut für Netzwerkmedizin an der Universität Wien die Herausforderungen und Chancen im Umgang mit seltenen Krankheiten. Er erklärt, wie seine Forschung auch neue Einblicke in häufigere Erkrankungen ermöglicht, und welche Rolle künstliche Intelligenz und Virtual Reality dabei spielen können, Gesundheit gerechter zu gestalten.

Gesundheit ist nicht gerecht. Schon ihre Voraussetzungen zu Beginn des Lebens sind sehr ungleich verteilt: Während die meisten Kinder glücklicherweise gesund zur Welt kommen, werden andere bereits mit einer schweren genetischen Erkrankung geboren. Das betrifft etwa eins von 20 Babys. Seltene Erkrankungen, zu denen viele dieser genetischen Defekte zählen, sind definiert als Krankheiten, die weniger als Fünf von 10.000 Menschen betreffen. Es gibt über 6.000 solcher Erkrankungen.

Zusammengenommen sind sie daher keineswegs selten, sondern betreffen Millionen Menschen weltweit. Die genetische Ursache einer bestimmten seltenen Erkrankungen zu verstehen, erfordert oft jahrelange, minutiöse Detektivarbeit spezialisierter Forschungsteams. Ist dieser Aufwand gerechtfertigt angesichts knapper Ressourcen? Oder sollte sich die Forschung auf Krankheiten konzentrieren, die nicht nur bei einer Handvoll Patient*innen auftreten?

Im Laufe unseres Lebens kommen ganz unabhängig von unserer vererbten Veranlagung noch viele weitere Faktoren dazu. Manche Faktoren können wir beeinflussen, wie Ernährung oder Bewegung. Andere entziehen sich unserer Kontrolle: die Luft, die wir atmen, die Lebensmittel, die wir uns leisten können, oder die Qualität der medizinischen Versorgung in unserer Region. Einkommen, Bildung und globale Herausforderungen wie der Klimawandel bestimmen mit, wie gesund wir sind – und wie lange wir leben. Wie weit können und wollen wir gehen, um die grundlegenden Voraussetzungen für ein gesundes Leben aller herzustellen?

Netzwerkmedizin: So werden wir in Zukunft geheilt

Was macht Gesundheit gerecht und wie sieht die Zukunft der personalisierten Medizin aus? Darüber spricht Jörg Menche, Professor of Quantitative Modelling of Biological Networks an der Universität Wien, im Video. © Universität Wien, DLE Kommunikation

Angesichts dieser komplexen Gemengelage individueller Voraussetzungen und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen für Gesundheit erscheint Gerechtigkeit weniger als ein Zustand, den wir erreichen und bewahren können, sondern vielmehr als ein dynamischer Prozess. Wohin dieser Prozess führen soll, muss durch gesellschaftliche Debatten ausgehandelt werden. Das Ergebnis ist zwangsläufig ein Kompromiss – zwischen dem, was idealerweise wünschenswert ist, und dem, was praktisch umsetzbar bleibt. Gesundheit ist damit Verhandlungssache.

Welche Rolle kann nun die Wissenschaft in diesem Prozess spielen? Ich möchte versuchen, einige Antworten auf diese Frage aus der Perspektive der biomedizinischen Grundlagenforschung zu geben, wie wir sie in unserer Arbeit am Ludwig Boltzmann Institut für Netzwerkmedizin vertreten.

Wie seltene Erkrankungen die Forschung voranbringen

Gesellschaftliche Diskussionen über Gerechtigkeit im Gesundheitswesen brauchen fundiertes Fachwissen. Unsere Expertise kann dazu beitragen, zentrale Fragen der Ressourcenverteilung sachlich zu beleuchten, etwa ob aufwendige Forschung und teure Therapien für nur sehr selten auftretende Erkrankungen überhaupt gerechtfertigt sind. Tatsächlich erlauben nämlich gerade diese seltenen, schweren genetischen Defekte oft ganz neue Einblicke in die molekularen Mechanismen, die auch viel häufiger auftretenden Erkrankungen zugrunde liegen. So hat etwa die Erforschung der Mukoviszidose, einer seltenen Erkrankung, bei der zäher Schleim die Lunge verstopft, auch unser Verständnis von Lungenerkrankungen wie Asthma und chronischer Bronchitis erweitert.

Besonders bei kontroversen Themen wie Gentechnik oder künstlicher Intelligenz ist es wichtig, unser Wissen in die Debatte einzubringen. Dabei sollten wir selbstbewusst auftreten, zugleich aber anerkennen, dass unser Fachgebiet nur einen Teil der komplexen Diskussion abdeckt.

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Was denken Sie über Gentechnik und künstliche Intelligenz in der Medizin? Inwieweit sind Gerechtkeit und Gesundheit vereinbar? Teilen Sie Ihre Meinung und diskutieren Sie mit dem Experten Jörg Menche im Diskussionsforum auf derStandard.at!

Erfolg liegt im Verstehen komplexer Zusammenhänge

Viele Probleme haben keine einfache Ursache – und auch keine einfache Lösung. Das gilt für große gesellschaftliche Themen wie den Klimawandel oder soziale Ungleichheit genauso wie für die Medizin. In unserer Forschung betrachten wir Erkrankungen als Summe vieler kleiner Störungen eines komplexen genetischen Netzwerkes. Diese Störungen ziehen Veränderungen in Zellen, Geweben und Organen nach sich – und führen schließlich zu Symptomen. Kein einzelner Faktor ist allein verantwortlich; es ist das Zusammenspiel vieler Prozesse, das das biologische Gleichgewicht stört.

Viele der großen gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit sind von solchen komplexen Zusammenhängen geprägt, die sich nicht auf einfache Ursachen und schnelle Lösungen reduzieren lassen. Um diesen Herausforderungen zu begegnen, müssen wir lernen, ihre Vielschichtigkeit zu akzeptieren und besser zu verstehen.

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Chronische Schmerzen sind eine komplexe Krankheit, für die es bisher keine wirksame Behandlung gibt. Ein Tag im Labor von Manuela Schmidt und David Gómez Varela an der Uni Wien, die daran etwas ändern wollen: mit den neuesten Technologien und Ansätzen der Proteomforschung.

Visionen und Technologien: Neue Wege zu gerechterer Gesundheit

Um Gesundheit gerechter gestalten zu können, müssen wir uns zunächst vorstellen, wie eine Welt, in der Gesundheit gerecht ist, überhaupt aussehen könnte. Bilder und Fantasien gehen dabei konkreten Schritten voraus und weisen ihnen den Weg. Die Wissenschaft kann dabei helfen, solche Visionen zu entwickeln. Eine Kernaufgabe von Wissenschaftler*innen ist es, über das hinauszudenken, was bereits bekannt und möglich ist – neue Wege zu erträumen, die vielleicht erst in ferner Zukunft Wirklichkeit werden.

In der Erweiterung unseres Denkens spielt neben der Wissenschaft auch die Kunst seit jeher eine zentrale Rolle: Ältere Leser:innen erinnern sich vielleicht an die Serie Star Trek, die bereits Ende der 1980er Jahre ein Holodeck erträumte – eine virtuelle Umgebung, in der wir mit einem Computer interagieren können, der uns beim Denken unterstützt. Jüngere mögen dabei an Tony Stark aus Iron Man denken, wie er komplexe Daten in einer interaktiven 3D-Umgebung visualisiert.

Podiumsdiskussion: Wie gerecht ist Gesundheit?

Zum Abschluss der Semesterfrage diskutieren Wissenschafter*innen und Alumni der Uni Wien gemeinsam mit dem Publikum die Frage, wie gerecht Gesundheit sein kann. Die Keynote hält die deutsche Medizinethikerin Alena Buyx. Am Podium diskutieren Janina Kehr vom Institut für Kultur- und Sozialanthropologie, Jörg Menche vom Zentrum für Molekulare Biologie, Lukas Seper, Co-Founder des Healthtech-Scale-ups XUND und Eva Waldmann vom Leadershipteam von PHARMIG.

Wann: Montag, 13. Jänner 2025, 18 Uhr
Wo: Großer Festsaal der Universität Wien, Universitätsring 1, 1010 Wien

Eintritt frei, um Anmeldung wid gebeten.
>> Hier geht´s zur Anmeldung

Mit KI und Virtual Reality in molekulare Netzwerke eintauchen

Was damals Science-Fiction war, ist heute Realität: In unserem Labor nutzen wir bereits Technologien wie künstliche Intelligenz und Virtual Reality, um in komplexe molekulare Netzwerke einzutauchen, Störungen zu analysieren und sie anschaulich zu machen. Eines unserer Ziele ist dabei, die Diagnose von seltenen Erkrankungen zu beschleunigen. Denn im Moment bleiben mehr als die Hälfte aller Patient:innen mit einer solchen Erkrankung ohne präzise Diagnose. Eine solche Diagnose ist jedoch die Voraussetzung für eine gezielte Therapie. Im Moment steht für über 95 Prozent aller Patient:innen mit einer seltenen Erkrankung keine gezielte Therapie zur Verfügung. Statt den molekularen Ursachen werden nur die Symptome behandelt. Auch hier versuchen wir, neue Wege zu gehen.

Im Kontext seltener Erkrankungen ist etwa der Einsatz von Medikamenten, die momentan in völlig anderen Krankheiten angewendet werden, besonders vielversprechend. Für die pharmazeutische Industrie lohnt sich nämlich der enorme finanzielle Aufwand oft nicht, der notwendig ist, um ein völlig neues Medikament zu entwickeln. Grundlagenforschung kann dabei helfen, Prinzipien in der Wirkweise von Medikamenten zu entschlüsseln, die dann in vielen Erkrankungen Anwendung finden können.

Mit den Technologien, die uns heute zur Verfügung stehen, wird die Verhandlung um Gesundheit und Gerechtigkeit nochmals erweitert, aber auch chancenreicher. Künstliche Intelligenz, Virtual Reality und Netzwerktheorie eröffnen neue Perspektiven, um Krankheiten besser zu verstehen und dadurch gerechter handeln zu können. Doch auch diese Werkzeuge selbst sind Teil der Verhandlung: Wie wir sie nutzen und für wen, entscheidet letztlich darüber, wie gerecht Gesundheit wirklich sein kann.

© Max Perutz Labs
© Max Perutz Labs
Jörg Menche ist Professor und Direktor des Ludwig Boltzmann Instituts für Netzwerkmedizin an der Universität Wien. Sein interdisziplinäres Team beschäftigt sich mit der Erforschung komplexer biologischer Netzwerke, um molekulare Ursachen von Krankheiten besser zu verstehen und neue Ansätze für Diagnostik und Therapie zu entwickeln.

Dieser Artikel erschien im Rahmen der Kooperation zur Semesterfrage auch auf derStandard.at.