Konrad Lorenz Forschungsstelle: Goose Gossip im Almtal
(Aktualisiert am 17.7. 2024, Red)
Der Ort, an dem alles begann, liegt nur ein paar Autominuten vom heutigen Standort der Konrad Lorenz Forschungsstelle der Uni Wien entfernt: Im Sommer 1973 zog Konrad Lorenz mit seinen damals schon berühmten Graugänsen am Auingerhof im oberösterreichischen Almtal ein. "Gänsevater" Lorenz ist schon lange nicht mehr da, seine Gänseschar aber gedeiht an der Hofstelle aus dem 17. Jahrhundert nach wie vor prächtig und bleibt seit 50 Jahren trotz minimalen Eingreifens der Forschenden bei etwa 100 Tieren konstant (siehe Infobox).
Und obwohl sie schon so lange im Fokus der Wissenschaft stehen, geben die Wildgänse den Verhaltens- und Kognitionsbiolog*innen der Uni Wien noch immer reichlich Stoff für neue Fragen – wozu hier geforscht wird, das möchten wir heute erfahren. Als wir am Auingerhof einfahren, sind die gefiederten Bewohner von uns Neuankömmlingen eher mäßig beeindruckt und machen nur langsam Platz.
Eine tierische Soap-Opera
Für Außenstehende wirkt es so, als würden die Tiere einfach nur zufällig in der Gegend herumstehen, aber beim genaueren Hinschauen fällt auf, dass sie oft paarweise oder in kleineren Gruppen anzutreffen sind. Tatsächlich sind die Wildgänse gewöhnlich in Clans organisiert und bleiben auch als Paar – meistens jedenfalls – ein Leben lang zusammen.
Mitten in der Schar stehen Didone Frigerio, Senior Scientist an der KLF und "Intima" der Wildgänse, und ihr Kollege Sepp Hemetsberger, der stv. Leiter der Außenstelle. Ausgerüstet mit Fernglas, Klemmbrett und Stift machen sie Notizen über die Anwesenheit der Tiere und erzählen uns anschließend vom komplexen sozialen Gefüge und den kleinen Dramen, die sich jeden Tag in der Gruppe abspielen: "Lando hier zum Beispiel ist zweimal über den Winter weggeflogen und hat sich danach immer einen neuen Partner gesucht, zuerst Bacardi, dann Boston. Jetzt ist sie seit ein paar Jahren mit Bruce Springsteen zusammen, das ist der Ganter, der da neben ihr auf einem Bein steht", erzählt Frigerio über das komplizierte Liebesleben einer eigentlich unscheinbar aussehenden Gänsedame.
Die wilden, zahmen Gänse
Die Graugänse der KLF sind keine gezähmten Haustiere, sondern Wildgänse, die an Menschen gewöhnt sind. Dieser feine Unterschied ist für ihre Erforschung äußerst wichtig, weil so einerseits ihr Verhalten und ihre Gruppendynamik ähnlich wie bei Tieren in der freien Wildbahn ist, sie aber einfacher zu beobachten sind und nicht durch die Anwesenheit der Forscher*innen beeinflusst werden. Die Schar pflanzt sich also frei fort und verbringt das ganze Jahr im Freien. Die Gänse können fliegen, wohin sie wollen, und sind deshalb auch vor Beutegreifern wie Adler, Fuchs und Rabe nicht geschützt.
An der alten Forschungsstelle werden sie zweimal am Tag gefüttert, das erlaubt standardisierte Beobachtungen ihres komplexen sozialen Systems. Zudem ist das vor allem im Winter wichtig, weil sie sonst weiter umherziehen oder auch Langstrecken in den Süden fliegen würden. An verschiedenen Stellen im Tal werden ihnen außerdem Brutplätze zur Verfügung gestellt.
Die Forscher*innen der KLF markieren alle flüggen Gössel (Junggänse) nach einem speziellen System, das ihr Schlupfjahr und ihre Verwandtschaft anzeigt. Der älteste Grauganter in Grünau trug den Namen "Herr Viel" und wurde 27 Jahre alt. Die derzeit ältesten Gänse der Schar sind zwei im Jahr 2000 geschlüpfte Männchen.
Bei der Namensvergabe können die Forscher*innen und Studierenden, die mit den Jungtieren arbeiten, ihrer Fantasie freien Lauf lassen – nur der Anfangsbuchstabe muss immer der vom Namen der Mutter sein. Landos Brüder und Schwestern, Luke Skywalker, Lucas und Leia wurden augenscheinlich von einem Star Wars Fan betreut.
Bei den Graugänsen ist es ein bisschen so wie in einem kleinen Dorf, wo alle einander kennen und alles voneinander wissen. Frigerio erzählt uns von Eifersüchteleien und Rivalitäten, und dass es Gänsen gar nicht gut tut, wenn sie länger alleine sind – auch hier sind sie uns Menschen gar nicht unähnlich. Schon nach nur einem Vormittag mit den Wildgänsen beginnen wir zu verstehen, warum manche ihr Leben der Erforschung dieser liebenswerten Vögel widmen.
Wildgänse – die am längsten erforschte Tierart der Welt
"Diese Gänse sind die weltweit am längsten individuell erforschten Tiere. Wir haben in unserem Archiv Aufzeichnungen von Konrad Lorenz über seine berühmte Gans 'Martina', die bis in die 1930er Jahre zurückgehen", sagt Sonia Kleindorfer, Leiterin der KLF, und unterstreicht die Wichtigkeit von Langzeitstudien: "Seit 1952 kennen wir in der Schar jede Partnerschaft, jedes Ei, das gelegt wurde. Heute messen wir sogar die Herzfrequenz und die Töne in den Eiern, und so begleiten wir die Gänse vom Schlüpfen bis ins Alter. Seit 30 Jahren forschen wir auch an Raben, dann sind die Waldrappe dazugekommen und seit ein paar Jahren sind dann noch andere Greifvögel und Singvögel dazugekommen."
Vom Temperament der Tiere
In der Verhaltensforschung hat sich in dieser Zeit einiges verändert: "Konrad Lorenz hat damals seine Beobachtungen aufgeschrieben; er hat qualitativ geforscht. Heutzutage werden Beobachtungen quantifiziert und statistisch auf Zufälligkeit überprüft. Außerdem verknüpfen wir das Verhalten der Gänse mit modernen Methoden auch mit ihrem 'Innenleben', beispielsweise ihrem Hormonhaushalt", erzählt Didone Frigerio.
Dabei werden auch Paradigmen der Verhaltensforschung hinterfragt: "Bei allen Tieren, mit denen wir diese umfassenden Langzeitstudien durchführen, wie unseren Gänsen und den Raben, sehen wir immer mehr, dass es 'das' typische Verhalten einer Art so nicht gibt. Verhalten ist viel individueller; bei den Gänsen gibt es zum Beispiel solche, die gerne wegfliegen und abenteuerlustiger sind, und solche, die lieber an einem Ort bleiben", fügt Sonia Kleindorfer hinzu.
Mit Sensoren und GPS auf der Spur der Vögel
Heute wird an der Forschungsstelle mit neuester Technik das Verhalten von verschiedensten Wildvögeln, Waldrappen und Greifvögeln sowie auch von Singvögeln – von ihrem größten Vertreter, dem Kolkraben, bis hin zu den kleineren Wald- und Wiesenvögeln – erfasst. Petra Sumasgutner, Tenure-Track Professorin und START-Preisträgerin, forscht zu Greifvögeln und ihrer Anpassung an uns Menschen.
Im gemütlichen Seminarraum im Erdgeschoss der Forschungstelle erzählt sie uns, wie sie mit einem einfachen Gerät das Verhalten von Greifvögeln digital überwachen kann: Sie stattet die Tiere, meistens Beutegreifer wie Raben oder Falken, mit GPS-Sendern und Beschleunigungssensoren aus. Diese kleinen Sensoren – wie sie auch jedes moderne Smartphone enthält – geben Auskunft über die Lage und Beschleunigung im Raum, können also zum Beispiel messen, ob der Träger eine Schrittbewegung macht. Sumasgutner kann damit digitale Bewegungsprofile der Greifvögel erfassen, zum Beispiel wenn sie beim Jagen in den Sturzflug gehen oder die gemachte Beute fressen. So können die Vögel 24 Stunden am Tag digital beobachtet werden.
Für die Auswertung der daraus generierten Datenmenge kommt Machine Learning ins Spiel: Spezielle Algorithmen verarbeiten die Bewegungsprofile und machen sie quantifizierbar. "Es bleibt dennoch wichtig, die Vögel auch in freier Natur zu beobachten, weil man vor allem am Anfang die gemessenen Daten mit dem Verhalten des Vogels abgleichen muss", unterstreicht Sumasgutner die Bedeutung von klassischer Feldforschung.
Magnet für Forscher*innen aus aller Welt
An der KLF arbeiten nicht nur Wissenschafter*innen und Studierende der Uni Wien, sie ist auch temporäres Zuhause für Master- und PhD-Studierende aus aller Welt. Internationalität ist für Sonia Kleindorfer eine wichtige Säule guter Forschung: "Allein in den vergangenen beiden Jahren waren Mitarbeiter*innen und Studierende aus 22 Nationen bei uns tätig. Das bringt viele verschiedene Blickwinkel und Herangehensweisen zusammen."
Ein Höhepunkt des Austauschs zwischen internationalen Wissenschafter*innen und der interessierten Öffentlichkeit ist das jährliche Biologicum Almtal, das heuer gleich zwei Jubiläen feiert – sein zehnjähriges und das 50-jährige Bestehen der Forschungsstelle. Es ist ein Symposium der besonderen Art: Hier werden traditionell die "großen Fragen" diskutiert, nicht nur der Verhaltensbiologie, sondern auch der Gesellschaft. Heuer steht das Thema Pioniergeist und Kooperation im Mittelpunkt.
Das Almtal als Modellregion gegen das Artensterben
Alle Wissenschafter*innen, die wir heute getroffen haben, sind sich einig: Die größte Stärke der Forschungsstelle liegt darin, dass sie tief mit dem Almtal und seinen Bewohner*innen verbunden ist. Die Unterstützung durch die verschiedenen Interessensgruppen des Tals, sei es aus Tourismus oder Landwirtschaft, und die Zusammenarbeit mit den regionalen Bildungseinrichtungen und mit dem Cumberland Wildpark Grünau ermöglichen es, gemeinsame Projekte zu gestalten und neue Forschungsergebnisse direkt anzuwenden. So können die Einwohner*innen an der Forschung teilhaben: eine Win-win-Situation für Wissenschaft und Gesellschaft.
"Wir wollen das Almtal zu einer Modellregion in Sachen Biodiversität und Umweltschutz machen. Durch langjähriges Monitoring haben wir herausgefunden, dass die Singvogelpopulation im Almtal – wie überall in Europa – stark zurückgeht. Wir testen gerade zusammen mit lokalen Landbesitzer*innen, ob ein geänderter Mährhytmus die Insektenpopulation erhöht, was sich wiederum positiv auf die Singvögel auswirken würde. Wir messen auch, ob die Lärmbelastung der Straßen einen negativen Einfluss auf das Brutverhalten der Vögel hat. Wenn wir diese Ergebnisse liefern, haben uns die Grundbesitzer*innen zugesagt, ihre Wiesen anders zu mähen, und die Gemeinde wird anstreben, das Tempolimit zu reduzieren", berichtet Sonia Kleindorfer enthusiastisch.
Es ist erfreulich, wenn man als Wissenschafterin gehört wird und die eigenen Forschungsergebnisse direkt etwas bewirkenSonia Kleindorfer
Um diesen "Almtal Vibe" möglichst vielen Menschen zugänglich zu machen, wird nun als gemeinsames Vorhaben der Universität Wien, des Wildparks und des Landes Oberösterreich, ein Open Science Center errichtet (siehe Infobox). Die Graugänse, ihre Beziehungen und die Herausforderungen, die auch sie durch den Klimawandel erleben, sind dafür ideale Botschafter*innen. Von ihnen können wir auch viel über uns Menschen lernen, sind die Forscher*innen des Almtals überzeugt.
Spatenstich: Konrad Lorenz Forschungsstelle bekommt Open Science Center
Ab 2025 werden hier Wissenschaftsinteressierte aus allen Altersgruppen hautnah Einblick in die Forschung der Biolog*innen bekommen. Das KLF Open Science Center (Spatenstich am 17. Juli 2024) soll als Zentrum der Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft, Bildung, Wirtschaft und Gesellschaft entstehen und die bisherigen Angebote erweitern.
Finanziert wird das neue Open Science Center vom Land Oberösterreich, der Universität Wien und dem Cumberland Wildpark in Grünau.
Mehr zum KLF Open Science Center lesen Sie in der Pressemeldung (17.7.2024).
Rudolphina Roadtrip nach Grünau im Almtal
- Von Wien starten wir mit dem Railjet nach Wels, von dort mit dem Regionalzug R3211 zum Bahnhof Grünau im Almtal (Reisezeit ca. 3 Stunden). Vier Mal am Tag im Sommer, und zwei Mal am Tag im Winter, fährt von dort ein Bus Richtung Almsee; aussteigen bei der Haltestelle "Almtal Naturwildpark". Wer nicht auf den Bus warten will, kann sich ein Taxi rufen.
- Ein Besuch des Cumberland Wildparks Grünau, der gleich an die KLF angrenzt, ist wärmstens empfohlen! Ein Teil der Gänseschar hält sich meistens am Rand des Parks auf, von wo man über den Almfluss auf den Auinger Hof schauen kann. Es gibt spezielle Führungen mit besonderem Augenmerk auf die Gänse und die Forschung an der KLF.
- Für Schüler*innen werden Führungen und Besuche der Forschungsstelle im Rahmen des Programms NATURSCHAUSPIEL.AT angeboten.
- Wissenschaft trifft auf Freizeit: Die KLF ist Initiator und Mitorganisator der KinderUniAlmtal. In diesem Rahmen findet auch jedes Jahr ein Sommercamp statt – hier einige fotografische Eindrücke der Science Holidays Almtal 2023.
- Das Almtal eignet sich außerdem hervorragend für einen Kurzurlaub mit schönen Wanderungen, zum Beispiel zu den Ödseen, auf den Zwillingskogel, oder für einen Badetag am glasklaren Almsee.
Sie wendet Citizen Science in unterschiedlichen Phasen des wissenschaftlichen Prozesses an, von der methodischen Herangehensweise bis zu Datenanalyse. Diese Ansätze wendet sie in Forschungsprojekten und Erhebungen im Bereich Langzeitmonitoring der Station an, wobei ein besonderes Augenmerk auf der Nachwuchsförderung liegt z.B. im Projekt Visible Science. Sie ist Mitbegründerin vieler regionaler Wissenschaftskommunikationsprojekte, wie etwa der KinderUniAlmtal sowie der Science Holidays Almtal, Gründerin des Junior Biologicums und Mitorganisatorin des Biologicums Almtal. Didone ist Associated Editor beim "Frontiers for Young Minds", einer wissenschaftlichen Zeitschrift speziell für Kinder.
2014 promovierte sie an der Universität Wien im Fachbereich Zoologie. In den darauffolgenden Jahren forschte Sumasgutner an den Universitäten Turku und Kapstadt und war an Kollaborationsprojekten mit der Universität Montpellier, Universität Lund, Universität Glasgow und der Universität Ulaanbaatar beteiligt. Seit 2020 arbeitet und forscht sie an der Konrad Lorenz Forschungsstelle der Universität Wien.
Nach ihrem PhD an der Universität Wien forschte sie unter anderem an der Universität Washington, in Australien und auf den Galapagosinseln, wo sie zur Bedrohung von Galapagos-Finken durch Parasiten gearbeitet hat. Sie ist auch an mehreren Konservierungsprojekten auf den Galapagosinseln beteiligt: Sie ist Gründungsmitglied der "Galapagos Landbird Group" und der "Avian Vampire Fly Action Group" der Charles Darwin Foundation auf den Galapagos Inseln. Sie ist leitende wissenschaftliche Partnerin im "Floreana Ecological Restoration Project" mit dem Galapagos National Park. Sie ist Gründerin und Leiterin des "BirdLab" (Adelaide, Australien, gegründet 2003). Außerdem ist sie Trägerin der "D.L. Serventy Medal" (2016) für "herausragende Forschungsbeiträge zur Ornithologie"; 2020 wurde sie zum "Honorary Fellow" der American Ornithological Society für "außergewöhnliche ornithologische Verdienste" ernannt.
Kritische Reflexion
Die Univesität Wien arbeitet ihre Ehrungspraxis auf:
In einem gesamtuniversitären Projekt wurden 1.577 Ehrungen untersucht - mit dem Ziel, kritische Aspekte aufzuarbeiten und sichtbar zu machen.
Aufgrund von Konrad Lorenzʼ Involvierung in den Nationalsozialismus wurde die Ehrung mit dem Nobelpreis 2022/23 als „problematisch“ eingestuft.