Erste Frauenbewegung: "Rat auf Draht" anno dazumal
Nicht selten führt eine Entdeckung zur nächsten. So auch im Fall der Zeithistorikerin Corinna Oesch: Im Zuge eines Forschungsprojekts rund um die deutsche Frauenrechtsaktivistin Käthe Schirmacher (1865-1930) ist Oesch bei ihren Archiv-Recherchen auf Briefe gestoßen, die unbekannte Frauen an Schirmacher geschrieben haben. "Diese Frauen haben sich mit unterschiedlichen, oft sehr persönlichen Anliegen an sie gewandt. Da unser damaliges Projekt einen anderen Fokus hatte, habe ich diese Briefe in diesem Rahmen nicht weiterverfolgen können, aber sie sind in meinem Hinterkopf geblieben", erzählt die Zeithistorikerin.
In ihrem aktuellen Elise Richter-Projekt stehen nun diese Art von Briefen im Mittelpunkt: Nicht nur Käthe Schirmacher hat Schreiben von Frauen aus der Bevölkerung erhalten, sie finden sich auch in den Nachlässen von anderen Aktivistinnen der Frauenbewegung, wie Corinna Oesch herausgefunden hat. "Sie könnten eine sehr interessante Quelle sein, und ich kenne keine Arbeit, die diese Thematik bisher näher beleuchtet hätte", so Oesch: "Meine Forschungsfragen drehen sich primär darum herauszufinden, ob diese Briefe tatsächlich eine relevante Quelle darstellen und wie man diese neue Art von Quelle überhaupt fassen und beschreiben kann."
Das Elise Richter-Projekt ist transnational ausgerichtet, d.h. Corinna Oesch und ihre Projektmitarbeiterin Dóra Fedeles-Czeferner sichten für die Historiographie von Bürgerinnenbriefen nicht nur Nachlässe aus Österreich und Deutschland, sondern auch aus Ungarn, England, den USA, Polen und Frankreich.
Erste Frauenrechtsbewegung: Kampf für die Gleichstellung aller Menschen
Die erste Frauenbewegung – Mitte des 19. Jahrhunderts bis Anfang des 20. Jahrhunderts – nahm in den USA und in Westeuropa ihren Ausgang und war stark von den Idealen der französischen Revolution im Sinne der Gleichheit aller Menschen geprägt. Sie kämpfte für die grundsätzlichen politischen und bürgerlichen Rechte der Frauen wie z. B. das Recht auf Bildung, das Recht auf Erwerbstätigkeit, das Frauenwahlrecht, das in Deutschland und Österreich 1918 rechtlich verankert wurde. Prominente österreichische Vertreterinnen der Bewegung waren u.a. Auguste Fickert, Marie Lang und Rosa Mayreder, die 1893 den Allgemeinen Österreichischen Frauenverein gründeten.
Buchtipp zum Thema: "Sie meinen es politisch!“ 100 Jahre Frauenwahlrecht in Österreich"
Käthe Schirmacher (1865–1930) - Schlüsselfigur der internationalen Frauenbewegung
Käthe Schirmacher, geboren am 6. August 1865 in Danzig, engagierte sich ab den 1890er Jahren im Danziger Verein "Frauenwohl" und kam dadurch mit dem radikalen Flügel der deutschen und internationalen Frauenbewegung in Kontakt. In den folgenden Jahren gehörte sie zur organisatorischen Führungsriege internationaler Frauenbewegungen. Von Paris aus, wo sie ab 1895 lebte, ging sie auf ausgedehnte Vortragsreisen, war als Korrespondentin deutscher, österreichischer und französischer Zeitungen tätig und publizierte politische Schriften, Zeitungsartikel und Romane. Ab etwa 1904 wandte sich Schirmacher zusehends einem "völkischen", antidemokratischen und antisemitischen politischen Kontext zu. Viele Aktivistinnen der Frauenrechtsbewegung wandten sich daraufhin von ihr ab. Neben einer Vielzahl an Dokumenten besteht der Nachlass Käthe Schirmachers aus einer Sammlung von etwa 14.000 Briefen.
Mehr über Käthe Schirmacher: Schirmacherprojekt Uni Wien und Deutsches Frauenarchiv
Buchtipp zum Thema: Agitation und autobiografische Praxis zwischen radikaler Frauenbewegung und völkischer Politik
Durch Ihre Artikel in verschiedenen Zeitungen aufgemuntert, erlaube ich mir in meiner Rathlosigkeit, bei Ihnen Hilfe und Rat zu suchen. Seit meiner Kindheit lebe ich in diesem kleinen Provinznest, in dem alle Vorurteile gegen Frauenarbeit und Selbständigkeit mit besonderer Hartnäckigkeit gezüchtet werden. [...]Sefa Buchinger an Käthe Schirmacher, Olmütz, 1904
Öffentlich debattierte "Frauenfragen"
Inhaltlich drehen sich die Briefe um Fragen, die Frauen damals bewegten und welche teilweise auch öffentlich debattiert wurden, wie z.B. Frauenbildung, Erwerbstätigkeit, Teilhabe am öffentlichen Leben, Geschlechterverhältnisse oder selbstbestimmte Lebensgestaltung. "Als Arbeitstitel habe ich diese Briefe 'Bürgerinnenbriefe' genannt, wissend, dass dieser Begriff durchaus problematisch ist: Frauen waren ja in dieser Zeit – also vor 1920 – Bürgerinnen zweiter Klasse; ohne Wahlrecht, rechtlich benachteiligt und aus der öffentlichen Sphäre ausgegrenzt", erklärt Oesch.
"Bürgerbriefe" ist ein Begriff aus der Geschichtsforschung und bezeichnet Briefe aus der Bevölkerung an Politiker, vor 1920 ausschließlich Männer. Corinna Oesch sieht hier durchaus Ähnlichkeiten zu den Briefen, die Frauen an Aktivistinnen der Frauenbewegung geschrieben haben: "Beide enthalten vielfach autobiographische Elemente. Die Menschen, die solche Briefe schreiben, stellen sich kurz vor, beschreiben ihre Situation, ihre Probleme. Eine weitere Ähnlichkeit ist, dass jeweils ein bestimmtes Anliegen vorgetragen wird, von dem angenommen wird, dass der oder die Adressierte über die nötige Macht, Beziehungen oder das nötige Wissen verfügt, um dieses Anliegen voranbringen zu können."
Wenn diese Zukunftsträume auch alle noch auf unsicheren Füßen stehen, so bin ich doch schon glücklich, wenigstens diese Allgemeinbildung [...] erstreben zu dürfen. Sicherlich habe ich Sie mit diesen sehr persönlichen Mitteilungen ungehörig gelangweilt und muss Sie deshalb um Nachsicht bitten.Trude Bayer an Käthe Schirmacher, 1906
Prominente, einflussreiche Frauen
Mit der ersten Frauenbewegung rücken auch die Aktivistinnen vermehrt in den öffentlichen Fokus. Sie werden nun, da sie über das nötige Wissen und über zahlreiche Kontakte verfügen, besonders von Frauen ebenso als einflussreich angesehen. "Erstmals in der Geschichte werden die Aktivistinnen als Auskunftspersonen mit Expertise wahrgenommen. Das ist historisch wirklich neu und tritt zum ersten Mal mit dem Entstehen von Frauenbewegungen um 1900 auf", erklärt die Zeithistorikerin.
Oft waren die Anliegen ganz spezifischer Natur: In einem Brief wandte sich eine Frau mit der Bitte um Rat zur Gründung ihres eigenen Unternehmens an Käthe Schirmacher. "Aus heutiger Sicht wirkt es etwas absurd, sich mit solch einem speziellen Anliegen an eine Aktivistin zu wenden", so Oesch: "Schirmacher war ja keine Expertin in all diesen Sachen, aber trotzdem wurde sie als solche wahrgenommen." In einem anderen Brief etwa wandte sich eine Mutter an eine Frauenrechtlerin, um nach soliden Ausbildungsmöglichkeiten für ihre Tochter zu fragen, da sie sich kein Studium leisten konnte.
Internationale Korrespondenz verfolgen
Natürlich sind für die Zeithistorikern nicht nur die Anliegen interessant, sondern auch die Reaktion der jeweiligen Frauenrechtsaktivistin: "Wir haben einige Fälle gefunden, wo es Folgebriefe gab – also muss es eine Korrespondenz gegeben haben. Viele haben also geantwortet und sich bemüht weiterzuhelfen. In seltenen Fällen gibt es sogar Hinweise, dass sie sich persönlich getroffen haben." Die Zeithistorikern Fedeles-Czeferner widmet sich im Projekt speziell dem Nachlass von Rosika Schwimmer, einer ungarischen Frauenrechtsaktivistin, die ihre gesamten Brief-Korrespondenzen aufbewahrt hat. "Das ist für uns natürlich eine besonders wertvolle Quelle."
"Die erste Frauenbewegung war ja auch international organisiert und die Aktivistinnen haben sich untereinander ausgetauscht und sind für Vorträge, etc. viel gereist", so Oesch. Da auch viele von ihnen, wie etwa Käthe Schirmacher, in Zeitungen und Zeitschriften publiziert haben, hatten sie auch in der breiten Bevölkerung einen gewissen Bekanntheitsgrad. "Es geht mir konkret um Briefe, die eben von unbekannten Frauen geschrieben wurden, die – noch – nicht selbst aktiv waren, sich aber von der Frauenbewegung angesprochen gefühlt haben."
Es ist wahr, ich möchte einen Beruf nicht nur deshalb ergreifen, damit ich im Falle der Ehelosigkeit durch meine eigene Kraft versorgt bin, sondern auch weil die häusliche Arbeit für mich so freudlos ist, dass ich mit ihr so wenig wie mit einer ungeliebten Person mein Leben lang beisammen bleiben will.G. Bloch an Käthe Schirmacher, 1904
Imperativ zur Selbstemanzipation
Die Besonderheit dieser Art von Briefen, liegt darin, dass die Briefe "einen Ausdruck und eine Reaktion auf einen Imperativ der Frauenbewegung zur Selbsterhebung" darstellen. Wer waren also diese Frauen? "Der überwiegende Teil der Briefeschreiberinnen waren Frauen aus der Mittelschicht, die nicht den herkömmlichen Weg gehen, sondern ein selbstbestimmtes Leben führen wollten", so Oesch: "Insgesamt ist das Spektrum breit, aber der Schwerpunkt liegt auf Frauen mit einem gewissen Bildungsgrad, welche auch die Zeit und die Mittel gehabt haben, solche Briefe überhaupt zu verfassen."
Das Projekt in Kürze
Das Elise Richter-Projekt "Frauen schreiben an Frauenbewegungsaktivistinnen, ~1870-1930", geleitet von der Zeithistorikerin Corinna Oesch, richtet seinen Fokus auf deutsche, ungarische, englische und französische Sprachräume und Quellenbestände. Ziel ist eine Auseinandersetzung mit jenen Frauen, die sich von der Ersten Frauenbewegung angesprochen gefühlt haben. Wer zählte zu dieser Gruppe? Wie sahen diese Frauen ihre Situation? Welche Themen und Debatten bewegten sie? Untersucht werden diese Fragen anhand einer Analyse von Briefen, die 'unbekannte' Frauen an prominente Protagonistinnen der Frauenbewegung schrieben.
Derzeit leitet sie das Elise Richter-Projekt "Frauen schreiben an Frauenbewegungsaktivistinnen, ~1870-1930". Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen u.a. Zeitgeschichte mit Fokus auf Frauen- und Geschlechtergeschichte, Historiografie von Frauenbewegungen und Transnationale Geschichte.