Genderbasierte Gewalt

"Wir haben noch viel zu tun"

22. November 2023 von Hanna Möller
Andrea Lehner-Hartmann forscht zu Gewalt in Schulen und Familien. Anlässlich der "16 Days of Activism against Gender-Based Violence" besuchen wir sie am Institut für Praktische Theologie und sprechen über (un-)sichtbare Gewalt, verstaubte Rollenbilder und gesellschaftliche Verantwortung.
Mit oranger Beflaggung setzt die Universität Wien im Rahmen der Aktion "16 Days of Activism" von UN Women ein Zeichen gegen sexualisierte und genderbasierte Gewalt. Rudolphina sprach zum Thema mit der Theologin Andrea Lehner-Hartmann, die zu Gewalt in Schulen und Familien forscht. © derknopfdruecker.com/Collage

Rudolphina: Am 25. November starten die "16 Days of Activism against Gender-Based Violence". Organisationen auf der ganzen Welt setzen ein Zeichen gegen Gewalt an Frauen und Mädchen. Warum sind Aktionen wie diese notwendig und wichtig?

Andrea Lehner-Hartmann: Die zahlreichen Femizide (mehr dazu im Rudolphina Beitrag), die wir heuer allein in Österreich erlebten, zeigen es deutlich: Gewalt an Mädchen und Frauen ist nach wie vor ein Problem. Dabei handelt es sich nur um die Spitze des Eisbergs. Es gibt ganz unterschiedliche Gewaltformen, die können von körperlicher oder sexualisierter Gewalt über psychische Gewalt bis hin zu Cybermobbing reichen und manchmal ganz schleichend beginnen. Erinnerungstage und Initiativen, wie die 16 Days of Activism der UN, die vom "Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen" am 25. November bis zum "Tag der Menschenrechte" am 10. Dezember laufen, sind ein wichtiges Instrument, um Gewalt gegen Mädchen und Frauen ins Bewusstsein zu rufen und zu erinnern: Wir haben noch viel zu tun.

Jede dritte Frau zwischen 18 und 74 Jahren in Österreich hat ab dem Alter von 15 Jahren körperliche und/oder sexualisierte Gewalt erlebt (34,51 %).
Quelle: Statistik Austria

Rudolphina: Was sind wichtige Schritte, um Gewalt gegen Mädchen und Frauen zu bekämpfen?

Lehner-Hartmann: Eine Maßnahme ist es, den Fokus auf die Täter zu richten. Nicht im Sinne dessen, dass sie mehr Aufmerksamkeit erhalten, sondern dass wir als Gesellschaft ein anderes Männerbild kreieren. Im Juni 2023 kam in Deutschland eine Studie (Planet International) heraus, für die 1000 Frauen und 1000 Männer zwischen 18 und 35 Jahren befragt wurden. Demnach eiferten über 50 Prozent der befragten Männer dem Bild des "durchsetzungsfähigen, starken Mannes" nach, mehr als ein Drittel gab an, gegenüber der Partnerin bereits handgreiflich geworden zu sein. Aufgrund der relativ kleinen Stichprobe wurde die Studie von einigen Seiten kritisiert, aber wenig später kam der Gender Social Norm Index heraus, der die Ergebnisse weitgehend bestätigte. Diesen Einstellungen müssen wir etwas entgegenhalten – und mit der Bewusstseinsarbeit am besten schon im Kindesalter beginnen. Zusätzlich sollten Mädchen (aber natürlich auch Burschen) bereits in der Schule Strategien vermittelt werden, um mit Gewalt umzugehen: Was muss ich nicht erleiden? Wie sage ich Stopp? Was ist überhaupt Gewalt? An wen kann ich mich wenden, wenn ich Gewalt erlebe, und welche Rechte habe ich? Wie kann ich mit meinen Impulsen zu Gewalt umgehen? 

Rudolphina: Gemeinsam mit einem Team von Studierenden des Instituts für Praktische Theologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät haben Sie Interventionen an Wiener Schulen durchgeführt. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?

Lehner-Hartmann: Wir haben vor etlichen Jahren mit einem Schulzentrum zusammengearbeitet und – von der Primarstufe über MS, AHS und einen Aufbaulehrgang – in die Schüler*innenschaft hineingehorcht, um zu erfahren, welche Gewaltformen auftreten. Auf den Fragebögen wurde Schüler*innen ein Gespräch angeboten, falls sie dies wünschten. Dies wurde von einigen Mädchen auch durchaus in Anspruch genommen. Dazu haben wir Studierende der Uni Wien im Vorhinein geschult, um mit den Schüler*innen zu sprechen. Da sie vom Alter her näher waren, fiel es den Jugendlichen leichter, sich gegenüber den Studierenden zu öffnen. Uns wurde von Gewalt zwischen Schüler*innen, Übergriffen ausgehend von Lehrkräften – hier vor allem psychische Gewalt und Demütigungen – und von schulübergreifenden Gewaltvorkommen berichtet. Auffällig war vor allem das Machtgefälle zwischen den Schultypen, aber auch in den Alters- und Geschlechtergruppen.

Banner mit Aufschrift "16 Days of Activism"

Die Universität Wien setzt ein Zeichen gegen sexualisierte und genderbasierte Gewalt. Während der internationalen #16Days gibt es auf den Webpräsenzen der Universität Wien und der ÖH unterschiedliche Beiträge zum Thema Gewalt gegen Frauen. Autorin und Journalistin Sara Hassan hält am 27. November einen Online-Vortrag zum Thema Grauzonen gibt es nicht: Muster sexueller Belästigung mit dem Red Flag System erkennen (zur Anmeldung). Vor dem Hauptgebäude werden orange Flaggen gehisst.

Weitere Informationen

Rudolphina: Die Genderperspektive ist bereits in den 1990er Jahren in Ihre Forschung eingezogen. Unter anderem beschäftigen Sie sich mit Gewalt in Familien. Warum erleben Frauen Gewalt am häufigsten dort, wo es nicht vermutet wird – nämlich daheim?

Lehner-Hartmann: Die rechtlichen Rahmenbedingungen sind in Österreich gut, dennoch ist es ein Land, das von einem sehr konservativen Ehe- und Familienbild geprägt ist. Das zeigt sich letztlich in Besitzansprüchen, die oftmals in Gewalt und Übergriffen gegen Frauen münden. Ich forsche in einem theologischen Kontext und in diesem Kontext passte Gewalt nicht zu den Idealvorstellungen von Familie. So kam in den moraltheologischen Lexika Gewalt in Familien schlichtweg nicht vor, es wurde einfach ausgeblendet. Die "heilige Institution Familie" wurde durch das Thematisieren von Gewalt massiv in Frage gestellt. Ich denke aber, dass es  wichtig ist, davor die Augen nicht zu verschließen – um Räume aufzumachen, in denen Frauen ihre Erfahrungen benennen und Hilfe in Anspruch nehmen können.

Rudolphina: Dabei gibt es auch viele biblische Geschichten, die von Gewalt (in Familien) erzählen…

Lehner-Hartmann: … die gibt es, zu Genüge! Und diese Geschichten, von Phyllis Trible auch als "texts of terror" bezeichnet, geben Zeugnis davon, dass die Gewalterfahrungen zumindest nicht verschwiegen wurden. Aber die Frage ist, ob und wie diese Geschichten gelesen wurden und werden. Dabei ist es notwendig, dass wir biblische Geschichten, wenn sie für uns heute bedeutsam sein sollen, auch im Kontext neuester Erkenntnisse aus den Human- und Sozialwissenschaften zu interpretieren haben. In Folge sind auch unsere theologischen Kategorien und Konzepte kritisch zu befragen, wie beispielsweise das Konzept der Vergebung.

Christlich sozialisierte Opfer sehen sich oft mit der mehr oder weniger direkt artikulierten Forderung konfrontiert, dem Täter zu vergeben. Damit verknüpfen sie die Hoffnung, so etwas wie Befreiung von ihren Ängsten, Selbstzweifeln und natürlich der Gewalterfahrung zu erleben. Befreiung stellt sich aber zumeist für das Opfer nicht ein, sondern lediglich für den Täter, der sich dadurch exkulpiert sieht à la "Wenn mir vergeben wird, dann ist alles wieder okay, ich muss mich nicht ändern."  und die Gewalttaten gehen weiter. Betrachtet man die Aufforderungen zu Vergebung in den neutestamentlichen Quellen näher, dann  lässt sich mit Frederic Keene darauf verweisen, dass Vergebung dort nie von Personen gefordert wird, die in einer hierarchisch schwächeren Position sind. Vergebung setzt zumindest so etwas wie eine  egalitäre Basis zwischen Opfer und Täter voraus, die unter den Bedingungen von Gewalt aber nicht gegeben ist. Dies zu beachten, hat reale Konsequenzen, z.B. für die christliche Seelsorge oder die religiöse Bildungsarbeit. Für Betroffene kann es wichtig sein zu hören: "Was dir widerfahren ist, war nicht okay, du musst (noch) nicht vergeben."

Rudolphina: Was macht es für Betroffene so schwer, über Gewalterfahrungen zu sprechen?  

Lehner-Hartmann: Die Angst vor dem Täter und vor erneuten Übergriffen, aber auch vor der Reaktion des Umfelds, was oft auch dazu führt, dass so etwas wie eine (Selbst-)Isolation stattfindet. Dazu kommt die große Scham, dass es ihnen passiert ist und die Angst, dass ihnen nicht geglaubt wird. Die Folgen von Gewaltübergriffen, die oftmals gezielt auf Demütigungen und die Zerstörung des Selbstwerts des Opfers gerichtet sind, erschweren zusätzlich das Reden über das Erfahrene.

Opfer entwickeln oft eigene Überlebensstrategien, deren Logik für Außenstehende nicht immer nachvollziehbar ist, die von den Betroffenen aber genau abgewogen wurden. So kann es beispielsweise vorkommen, dass Frauen im Beisein von Freund*innen Konflikte austragen, weil sie wissen, dass sich ein nächster Gewaltübergriff anbahnt und weil sie hoffen, dass er im Beisein anderer schneller vorübergeht und nicht so heftig ausfällt. Leonore Walker hat diese Dynamik der Gewalt bereits in den 70-er Jahren mit ihrem Gewaltzirkel zu beschreiben versucht. Das soziale Umfeld befremdet dieses Verhalten und so kann es sehr schnell zur Verwechslung von Ursache und Wirkung kommen. Der Gewaltübergriff wird dann durch das Verhalten der Frau zu begründen versucht. Dabei wird übersehen, dass dies aber bereits eine Folge der Gewaltübergriffe ist, womit versucht wird, die Kontrolle nicht ganz zu verlieren. 

Die Folgen von Gewaltübergriffen, die oftmals gezielt auf Demütigungen und die Zerstörung des Selbstwerts des Opfers gerichtet sind, erschweren zusätzlich das Reden über das Erfahrene. 
Andrea Lehner-Hartmann

Wenn dies auf eine Atmosphäre des Nicht-Glauben-Wollens oder -Könnens stößt, ist es zusätzlich schwer für Betroffene, etwas zu sagen. Personen, die gewalttätig sind, können (auch) liebevolle Väter sein, sich in der Kommunalpolitik engagieren oder im Sportverein aktiv sein. Das passt dann oft nicht mit dem Bild des Täters zusammen, das wir in unseren Köpfen haben und das dazu führt, den Betroffenen die Glaubwürdigkeit abzusprechen. Hier müssen wir etwas üben, das in der Theologie auch die Unterscheidung der Geister genannt wird: Die kritische Differenzierung von inneren Bildern, Gefühlsregungen und Tatsachen. Das soziale Engagement ist anzuerkennen, aber das darf nicht dazu führen, dass dadurch Gewalt geleugnet wird oder verunsicherte Opfer als unglaubwürdig hingestellt werden. Diesen differenzierten Blick brauchen vor allem Professionelle, etwa Priester, Lehrpersonen oder Seelsorger*innen, um Betroffene gut begleiten zu können.

Wenn Sie Betroffene*r oder Zeug*in von sexueller Belästigung oder Diskriminierung sind, können Sie sich an der Universität Wien an folgende Anlaufstellen wenden:

Beratungsstelle Sexuelle Belästigung und Mobbing: 
Psychologische Beratung, keine Interventions- oder Sanktionsbefugnis

Arbeitskreis für Gleichbehandlungsfragen (AKGL):
Beratung, Unterstützung, Beschwerdemöglichkeit, begleitende Kontrolle, kein Entscheidungsorgan

Hochschüler*innenschaft:
Frauen*referat: Beratung und Meldeformular bei Vorfällen von Diskriminierung (anonym oder mit Klarnamen); weitere Referate: Antirassistische Arbeit und ausländische Studierende, Barrierefreiheit, Queerreferat, Working Class Students etc.

Rudolphina: Sie haben als Dekanin der Katholisch-Theologischen Fakultät die Initiative schau hin! ins Leben gerufen. Worum geht es?

Lehner-Hartmann: In der Vergangenheit gab es auch bei uns an der Fakultät Berichte über Gewaltvorkommnisse und Diskriminierung – sei es zwischen Studierenden, von Lehrenden ausgehend oder gegenüber Lehrenden. Wir haben die Kampagne schau hin! entwickelt, um zu signalisieren, dass wir auf eine respektvolle, diskriminierungsbewusste Studier- und Arbeitsatmosphäre zwischen Studierenden, Lehrenden und nicht-wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen Wert legen. Aber auch um zu zeigen, dass es hier Menschen gibt, die ein waches Auge haben. Wir möchten damit auch Betroffene ermutigen, über ihre Erfahrungen zu sprechen und Stellen an der Fakultät bzw. an der Uni Wien bekanntmachen, die sich um ihre Anliegen kümmern.

Rudolphina: Vielen Dank für das Gespräch! (hm)

© Barbara Mair
© Barbara Mair
Andrea Lehner-Hartmann ist Dekanin der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien und stellvertretende Sprecherin der interdisziplinären Forschungsplattform GAIN - Gender: Ambivalent In_Visibilities. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören u.a. Gewalt in Familien und Schulen sowie Gender in (religiösen) Bildungsprozessen.