"Es riecht nach Wien"
"Würstelstand", "Donauwasser", "Tschick", "Rosengarten" – wie riecht eigentlich Wien? Würden wir hundert Menschen in Wien diese Frage stellen, bekämen wir vermutlich hundert verschiedene Antworten. Der Grund dafür: "Gerüche erreichen über die Amygdala unmittelbar unser limbisches System im Gehirn. Sie werden nicht erst wie bei den anderen Sinneseindrücken über den Thalamus in die Großhirnrinde, den Cortex, zur Verarbeitung geschickt. Emotionen und persönliche Erinnerungen sind daher oft sehr direkt und sehr eng mit unseren Geruchserlebnissen verknüpft", erklärt uns Historikerin Julia Gebke, die für das Citizen Science-Projekt "Wien der Nase nach" unter der Leitung von Stephanie Weismann persönliche Geruchsgeschichten von Wiener*innen sammelte. Wer sich einen Eindruck davon verschaffen will, kann hier in die Wiener Geruchskarte hineinschnuppern und den eigenen Wien-Duft gleich eintragen.
Markante Gerüche in Ottakring
Wenn man sich die Wiener Geruchskarte anschaut, fällt die Dichte der grünen Punkte im Bezirk Ottakring auf, die für positive Geruchsbewertungen stehen. "Mit der Ottakringer Brauerei und der Manner Fabrik weist das Grätzl gleich zwei sehr gegensätzliche Industriegerüche auf, die jedoch viele Menschen positiv begleitet haben", berichtet Gebke. "Wenn man über die besondere Eigenschaft von Gerüchen, Erinnerungen zu wecken, ins Gespräch kommt, fällt vielen Wiener*innen oft spontan Ottakring ein. Wenn ein Geruch unserem Gedächtnis auf die Sprünge hilft, nennt sich das übrigens Proust-Effekt, nach dem Schriftsteller Marcel Proust benannt, der in einer Szene seines Romans 'Auf der Suche nach der verlorenen Zeit' diesen Trigger-Effekt besonders anschaulich beschreibt."
Woraus sich die Wiener Luft zusammensetzt
Was in Wien in der Luft liegt, kann Aerosolphysikerin Bernadett Weinzierl mit High-Tech-Geräten ab einer Partikelgröße von einigen Nanometern genau erheben – und damit aktuell drängende Fragen rund um in der Luft schwebende Teilchen wie Mikroplastik, Mineralstaub oder Ruß klären. Wir begeben uns mit ihr auf einen gedanklichen "Smell Walk" durch – natürlich – Ottakring und Umgebung. Unser Ausgangspunkt ist Wien-Alsergrund, genauer gesagt das Dach der Fakultät für Physik der Universität Wien. 35 Meter über der Bodenoberfläche thront hier ein hochmodernes Aerosolobservatorium. "Wir können damit winzige Partikel in der Luft messen", erklärt uns Bernadett Weinzierl und lässt ihren Blick über Wien schweifen. Abgesehen vom AKH ist in nächster Nähe kein höheres Gebäude als die Fakultät unter unseren Füßen in Sichtweite, "wir empfangen hier Luft aus allen Richtungen, der perfekte Standort für unsere Messungen", freut sich die Aerosolphysikerin.
Geruchsgeschichten auf der Spur
"Smell Walks", aber auch Methoden des Kreativen Schreibens öffnen die Tür zu den tief verborgenen Geruchswelten der Menschen, erzählt Julia Gebke, die bei den "Sniff'n Write"-Sessions des Projekts "Wien der Nase nach" federführend war. Aber nicht wortwörtlich: In den Workshops mussten die Teilnehmenden ihre Geruchserlebnisse selbst auf Papier bringen, "und da ging es ganz schön ans Eingemachte: Wir mussten immer wieder feststellen, wie eingeschränkt unser Geruchsvokabular ist und wie oft wir uns eines anderen Wortschatzes, etwa aus dem Bereich des Schmeckens, bedienen müssen. Gerade aber das freie Schreiben und lyrische Formen, wie Elfchen und Pantun (Anm. d. Red.: Hier gibt es mehr Informationen zum Kreativen Schreiben und eine kleine Anleitung für den Selbstversuch), brachten spannende Bilder zum Vorschein."
Geruchsgeschichte für die Nachwelt
Gebke ist eigentlich Spezialistin für die Frühe Neuzeit, also jenen Zeitraum, der sich in etwa von 1500 bis 1800 n. Chr. erstreckte. Oft sind es herausragende Ereignisse, die Menschen damals für aufbewahrungswürdig hielten und heute für Quellenarbeit zur Verfügung stehen, erzählt uns Gebke. Doch sind es gerade die alltäglichen Dinge, Emotionen, Erinnerungen oder eben Gerüche, die für Historiker*innen wie sie spannend sind, um zu verstehen, wie Menschen in einer bestimmten Zeit gelebt und gedacht haben. "Das Projekt 'Wien der Nase nach' ermöglichte mir etwas, was üblicherweise nicht in meinen Aufgabenbereich fällt", schmunzelt Gebke: "Ich konnte dazu beitragen, dass spannendes Quellenmaterial über das Alltagsleben in Wien zu Beginn des 21. Jahrhunderts für zukünftige Historiker*innen entsteht."
Einatmen?
Die Datensammlung für die Nachwelt komplementiert Bernadett Weinzierl mit ihrer Forschung zu Aerosolen, einem Gemisch aus kleinsten Teilchen/Partikeln und einem Gas (z.B. Luft), das ständigen Änderungen unterworfen ist. Für Gerüche sind die winzig-kleinen Aerosolpartikel nicht unbedingt ausschlaggebend, kommen aber oft damit einher: "Wenn uns ein Geruch in die Nase steigt, finden wir oftmals auch erhöhte Aerosolpartikelkonzentrationen, zum Beispiel an einer stark befahrenen Straße", erklärt die Professorin an der Fakultät für Physik. Das ist unser Stichwort: Auf geht es zum Gürtel, wo ein Auto nach dem anderen vorbeisaust. Frau Weinzierl, sollten wir hier tief Luft holen – oder besser nicht?
Unser Sommer-Citytrip zum Nachspazieren:
Lust auf einen Smell Walk bekommen? Es braucht keinen bestimmten Ort, um sich Wien zu erriechen, sondern eher die Fähigkeit, mit offener Nase durch die Stadt zu gehen, so Julia Gebke. Für Ihren nächsten Gang zur Arbeit oder in der Freizeit empfiehlt die Forscherin, mal ganz bewusst darauf zu achten, welche Gerüche Ihnen begegnen. Wer die Geruchs-Ikone Ottakring entdecken möchte, kann dies anhand unserer Route machen. Alle Geruchserfahrungen können übrigens hier in die Geruchslandkarte des Projekts "Wien der Nase nach" eingetragen werden – danke für Ihre "Datenspende".
- Kongresspark: Grün tut uns gut – und der Luft! Auf Blättern und Nadeln von Bäumen und Pflanzen lagern sich u.a. mensch-gemachte Aerosolpartikel ab und werden so aus der Luft gefiltert.
- Manner Fabrik: Schokolade liegt in der Luft. Viele Menschen verbinden mit diesem speziellen Geruch der Manner-Fabrik persönliche Erinnerungen – der Proust-Effekt. Woran denken Sie, wenn Ihnen der Duft von geröstetem Kakao rund um die Fabrik in die Nase steigt?
- Drogeriemarkt: Die automatische Schiebetür öffnet sich und der Duft von Parfüms, Seifen und Cremes strömt nach draußen. Wir gehen an der einer Drogerie vorbei – was uns da in die Nase steigt, sind Gase.
- Gürtel: Odeur von Würstchen, Döner und Falafel mischen sich mit Autoabgasen – wir sind am Gürtel angekommen. Durch die Filterpflicht für Kraftfahrzeuge liegt hier weniger Ruß in der Luft als noch vor 60 Jahren. In Sachen saubere Luft schlägt der Gürtel damit so manche Hafenstadt.
Hier geht es zum GPS-Track der Route
Laden Sie untenstehende GPX-Datei auf Ihr Smartphone herunter und importieren Sie sie in die Navigations-App Ihrer Wahl, etwa in Komoot. Hier finden Sie eine Anleitung für den Import in Komoot.
Routenvorschlag für Ihren Sommer-Citytrip durch Wien
Ausatmen!
Feinstaub, also Partikel mit einem Durchmesser kleiner als 2,5 Mikrometer, z.B. aus Verkehrsemissionen, sowie bodennahes Ozon gehören nach wie vor zu den größten "Luftverschmutzern", aber es gibt auch gute Nachrichten: Seit über 60 Jahren werden an der Fakultät für Physik Daten erhoben und die Rußmassenkonzentration in der Wiener Luft ist seit Beginn der 1980er Jahre im Sommer um etwa 70 Prozent, im Winter um etwa 88 Prozent zurückgegangen. Grund dafür sind Luftreinhaltemaßnahmen wie z.B. der Einsatz von Partikelfiltern bei Dieselfahrzeugen und in der Industrie und modernere Heizungen, vermutet Weinzierl.
"Das ist sehr erfreulich, denn auf Ruß werden nachweislich Gesundheitsschäden zurückgeführt", erklärt die Expertin: "Es gibt Zusammenhänge zwischen der Feinstaubkonzentration und vorzeitigen Todesfällen. Eine ganz neue Studie belegt, dass in den letzten 40 Jahren ungefähr 135 Millionen Menschen aufgrund von Feinstaub vorzeitig verstorben sind. Allerdings hat sich die Luftqualität in Europa in den letzten Jahrzehnten erheblich verbessert und vorzeitige Todesfälle aufgrund von Luftverschmutzung sind weiter rückläufig".
Was ist eigentlich gute Luft?
Die Frage, was denn eigentlich "gute Luft" ausmacht, ist übrigens gar nicht so einfach zu beantworten, nicht einmal für eine Aerosolphysikerin. Bernadett Weinzierl versucht es und beamt uns gedanklich in den Kongresspark, eine grün bewaldete Parkanlage in Ottakring, die sich auf 61.000 m² erstreckt: "Eine erhöhte Partikelanzahlkonzentration in der Luft bedeutet nicht unbedingt eine Gefahr für die Gesundheit. Entscheidend sind Material der Partikel und ihre Größe: Grobe Partikel mit Durchmessern von einigen Mikrometern werden von der Nase gefiltert, gefährlicher wird es bei kleinen Partikeln: Ultrafeine Partikel (< 0,1 µm) können tief in die Lunge eingeatmet werden, sich ablagern oder sogar in den Blutkreislauf gelangen, was zu Herz-Kreislauf- und Atemwegserkrankungen führen kann.
Bäume in Wäldern und Parks – wie im Ottakringer Kongresspark – spenden Schatten, verdunsten viel Wasser und kühlen so am Tag. Außerdem bieten die Blätter und Nadeln der Bäume eine große Oberfläche, auf denen sich Aerosolpartikel ablagern und so aus der Luft gefiltert werden. Andererseits setzen einige Baumarten wie z.B. Eichen und Pappeln – insbesondere bei wärmeren Temperaturen – große Mengen an Isopren frei, aus denen sich Aerosolpartikel bilden können", erklärt Weinzierl. Obwohl Isopren nicht grundsätzlich schlecht ist, kann es durch chemische Reaktionen mit Stickoxiden z.B. aus Autos oder Kohlekraftwerken die Luftverschmutzung durch die Erzeugung von bodennahmen Ozon erhöhen, worauf etwa zehn bis 15 Prozent der Bevölkerung empfindlich reagieren.
"Was wir in dieser ganzen Debatte um die Luftqualität oft vergessen: In Innenräumen ist die Feinstaubbelastung oft höher als in der Außenluft: Rauch, Schimmel, Chemikalien in Farben, Möbeln oder Putzmitteln können die Innenraum-Luftqualität beeinträchtigen Durch seltenes Lüften reichern sich die Partikel an", warnt die Physikerin.
Menschgemachte Emission stinkt bis zum Himmel
Vor 20 Jahren hat Weinzierl zusammen mit Kolleg*innen Messungen zum Abgas von Schiffen gemacht – und hohe Feinstaubkonzentrationen, besonders rund um den Ärmelkanal, festgestellt. Im Januar 2020 traten neue gesetzliche Regelungen zur Emissionsbegrenzung für die Schifffahrt in Kraft, wodurch Schiffe weltweit nur noch mit schwefelarmem Treibstoff fahren dürfen. Dadurch wurden auch die kühlenden Sulfataerosolpartikel aus dem Schiffsverkehr deutlich reduziert – was gut für die Luftqualität ist, aber paradoxerweise zu einer stärkeren Erwärmung der Erde führt.
Global gesehen haben Aerosolpartikel nämlich einen kühlenden Effekt auf unser Klima und schwächen die durch Treibhausgase – insbesondere Kohlendioxid und Methan – bedingte Erwärmung damit ab. Die Partikel reflektieren das Sonnenlicht ins Weltall zurück, verändern die Wolkenbildung und machen Wolken heller – so können diese ebenfalls mehr Sonnenlicht reflektieren. "Ohne den menschgemachten Ausstoß an Partikeln, wäre die vom Menschen verursachte Erderwärmung im Vergleich zur vorindustriellen Zeit um 1750 um etwa 0,5 Grad stärker ausgefallen", weiß Weinzierl: "Luftreinhaltung ist also nicht gleich Klimaschutz. Unter gesundheitlichen Aspekten ist gleichwohl jede Reduktion der Luftverschmutzung begrüßenswert – auch wenn dadurch die durch menschliche Treibhausgase verursachte Klimaerwärmung deutlicher sichtbar wird. Letztlich müssen wir das eigentliche Problem lösen und unsere Treibhausgasemissionen senken."
Chemie mit allen Sinnen erleben
Welche Bedeutung hat die chemische Forschung eigentlich für unser tägliches Leben? Und wie hilft sie uns bei der Bewältigung aktueller gesellschaftlicher Herausforderungen? In dem Projekt "Chemie der Sinne" unter der Leitung von Nuno Maulide wird die chemische Forschung über die fünf menschlichen Sinne erlebbar gemacht. Wer mehr darüber erfahren möchte, ist hier richtig: zur Projektwebsite.
Der kühlende Effekt von Aerosolpartikel wird zum Beispiel in Australien bereits in Feldversuchen getestet. Nur sind es keine Ruß-, sondern Meerwassertröpfchen, die über dem Great Barrier Reef versprüht werden, damit künstliche Wolken entstehen bzw. vorhandene Wolken aufgehellt werden. "Bei solchen Eingriffen in den natürlichen Kreislauf muss man vorsichtig sein, dass keine unerwünschten Nebeneffekte entstehen. Früher stand ich dem sogenannten Geo-Engineering sehr kritisch gegenüber, doch in Anbetracht des sich immer stärker erwärmenden Klimas können wir die Augen nicht verschließen. Seriöse Wissenschafter*innen müssen die Prozesse in der Atmosphäre besser verstehen und Geo-Engineering in Modellen untersuchen, um dessen Risiken sowie mögliche negative Folgen besser quantifizieren zu können." Vielleicht werden so nicht nur Geschichten für die Nachwelt gesammelt, sondern die Geschichte für die Nachwelt umgeschrieben. (hm)
Sie ist nicht nur auf dem Dach der Fakultät für Physik, im hochmodernen Aerosolobservatorium, sondern auch im Forschungsflugzeug unterwegs, um die Zusammensetzung der Luft zu erheben. Ihr ultimativer Sommerduft: Lavendel – der blüht satt und lila-grün in ihrem Wiener Balkongarten.
Im Projekt "Wien der Nase nach" war sie als Schreibtrainerin für Sniff´n Write Workshops zuständig, die so manchen Geruchsgeschichte zum Vorschein gebracht haben. Wenn ihr Bärlauchgeruch in die Nase steigt – also "diese typische Mischung aus kühl, erdig, nass und Knoblauchwürze" – versetzt sie das unwillkürlich an den Liesingbach und erinnert sie an Wochenend-Wanderungen durch die waldigen Ränder Wiens.