Die Fluchtgeschichten, die nicht erzählt wurden
Als jüdische Transfrau im nationalsozialistischen Deutschland musste Charlotte Charlaque vor allem eines: so schnell wie möglich das Land verlassen. Doch von ihrer bewegten Flucht sollten wir erst spät erfahren. "Die bekanntesten Fluchtgeschichten aus Zeiten des Holocaust stammen von Intellektuellen", erklärt Paula Wojcik: "Doch was ist mit den vielen anderen Geschichten, die nicht aufgeschrieben wurden oder in der unmittelbaren Nachkriegszeit als schlichtweg nicht wichtig erachtet wurden?" Wojcik vom Institut für Europäische und Vergleichende Sprach- und Literaturwissenschaft und ihr internationales Team sammeln und analysieren inRemapping Refugee Stories bisher vernachlässigte Biografien aus der Zeit zwischen 1933 und 1953 – darunter von queeren Menschen, People of Color und Sinti*zze und Rom*nja.
"Wir arbeiten mit den Erzählungen von Menschen, die aus verschiedenen Gründen verfolgt wurden und auch in der jungen Vergangenheit oftmals keine Vertretung hatten", so die Literatur-Expertin. "Holocausterlebnisse von marginalisierten Gruppen wurden seltener zum Thema gemacht, bei Sinti*zze und Rom*nja galt die Auseinandersetzung sogar lange als Tabu." Damit auch jene Erfahrungen wissenschaftlich aufgearbeitet und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden können, arbeitet das Wiener Team in Co-Leitung mit Werner Nell von der Queen's University (Kanada) mit internationalen Expert*innen aus der Zeitgeschichte, Soziologie, Psychologie, Pädagogik sowie Kunst und Kultur zusammen.
Aus Tagebucheinträgen, Dokumenten, die teilweise im Zuge des Projekts erstmalig in Englisch und Deutsch übersetzt wurden, Briefen und Videoaufnahmen destillieren Paula Wojcik und ihre Kolleg*innen 20 Fluchtgeschichten, die sie in Remapping Refugee Stories näher beleuchten und in Form einer interaktiven Website im Herbst 2024 veröffentlichen. Gefördert wird das Projekt von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ), deren Ziel es ist, die Erinnerung an das Unrecht der nationalsozialistischen Verfolgung lebendig zu halten und sich für Menschenrechte und Völkerverständigung einzusetzen.
Flucht als offenes Genre
Es gibt nicht die "eine" Fluchtgeschichte, das ist den Literaturwissenschafter*innen während ihrer Quellenarbeit klar geworden: Manche Menschen verlassen den Kontinent, manche kommen nur bis zum benachbarten Dorf. Einige planen ihre Flucht über Monate, andere müssen von einem Tag auf den anderen ihr Zuhause verlassen. In einigen Fällen wartet ein "sicherer" Hafen, in anderen Fällen hat die Flucht mehrere Etappen, endet nie oder zuletzt mit einer Rückkehr in die Heimat. Bei jeder dieser Geschichte handelt es sich um eine Fluchtgeschichte – "auch wenn sie vielleicht nicht der stereotypen Vorstellung entspricht", so Paula Wojcik.
Vom kommunikativen Gedächtnis…
Einer, der so eine "untypische" Fluchtgeschichte erlebt hat, ist Felix Lee, Sohn einer jüdischen Wienerin und eines chinesischen Komponisten, heute 88 Jahre alt. 1935 konnten er und seine Familie nach China fliehen, noch bevor sich die Situation für Jüdinnen und Juden in Wien zuspitzte. In China angekommen, litt seine Mutter so sehr unter dem Kulturschock, dass die Familie schließlich entschied, in das austrofaschistische Österreich zurückzukehren – wo sie ihre jüdische Herkunft verbergen und die Gräueltaten des NS miterleben mussten. "Felix Lee ist einer von wenigen, die ihre Geschichte noch selbst erzählen können", berichtet die Literaturwissenschafterin, die den betagten Zeitzeugen, der noch heute in Wien lebt, bereits mehrmals treffen durfte.
…zum kulturellen Gedächtnis
Bald wird es keine Holocaust-Überlebenden mehr geben, die ihre Geschichten erzählen können. "Wir erleben den Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis", erklärt Wojcik, "daher ist es gerade jetzt wichtig, dass wir die Geschichten beleben und Kommunikationswege finden, um auch jüngere Generationen zu erreichen und dieses Wissen zu verankern." Die Wissenschafter*innen erarbeiten gemeinsam mit Pädagog*innen Unterrichtsmaterial für Schulen und erproben neue Vermittlungsformen – so haben Studierende in einer Lehrveranstaltung "anhand der Fluchtgeschichten Videospiele konzipiert, die sich mit dem NS-Unrecht auseinandersetzen". Einige dieser Skripte sollen in einem Folgeprojekt realisiert werden.
Den Holocaust (immer wieder) zum Thema zu machen, ist auch im Hinblick auf aktuelle Konflikte und Krisen wichtig, erinnert Wojcik, die sich bereits seit Beginn ihrer wissenschaftlichen Karriere mit Antisemitismus und Nationalsozialismus beschäftigt: Damit wir nicht zu vergessen drohen – vergessen, wann es soweit ist, dass eine Gesellschaft in eine Richtung abdriftet, die zu einer totalitären Herrschaft, Diskriminierung und Vertreibung von Menschen führen kann. (hm)
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Im transdisziplinären Projekt "The Art of Arriving: Reframing 'Refugee Integration'" haben Soziolog*innen der Uni Wien gemeinsam mit Künstler*innen, die zum Teil selbst Fluchterfahrung haben, Prozesse des Ankommens erforscht. Lesen Sie mehr über das Forschungsvorhaben