Osteuropäische Geschichte

Im Osten nichts Neues

13. Juli 2023 von Theresa Dirtl
Während die Westfront im Ersten Weltkrieg nicht nur in Büchern und Filmen, sondern auch in der Forschung intensiv aufgearbeitet wurde, führt die Ostfront in Galizien eher ein Schattendasein. Diese Wissenslücke wollen die Historikerinnen Kerstin S. Jobst und Kerstin von Lingen nun schließen.

"Die Erde ist reich, die Bewohner sind arm", schrieb der Schriftsteller Joseph Roth in einer Reisereportage 1924 über sein Heimatland Galizien. Nur wenige Jahre zuvor verlief die sogenannte Ostfront des Ersten Weltkriegs quer durch Galizien, an der sich die habsburgische und die zarische Armee gegenüberstanden und sich einen blutigen Stellungskrieg lieferten. Die Aus- und Nachwirkungen für Mensch und Umwelt waren verheerend – abgeholzte Wälder, ausgebrannte Ölfelder, verminte Äcker, etc. – und sind bis heute bei weitem nicht so detailliert erforscht wie jene der Kriegsjahre an der Westfront, wo britische und französische Soldaten gegen deutsche Soldaten kämpften.

"Die Forschung hat die Ostfront im Ersten Weltkrieg relativ links liegen lassen. Der Blick, dass Grauen und Tod in einem gigantischen Ausmaß auch im Osten stattgefunden haben, ist relativ neu", sagt Osteuropahistorikerin und Projektleiterin Kerstin S. Jobst. Die Frontlinie durch Galizien ist auch insofern interessant, als dort zwei untergehende Reiche – das Habsburgerreich und das Zarenreich – aufeinandertrafen.

Kriegsdokumentation in Archiven

Um den Alltag, die Probleme und auch die (Umwelt-)Zerstörungen an der Frontlinie der Habsburgerseite aufzuarbeiten, verbringt das Team um Jobst viel Zeit in Archiven, etwa im österreichischen Staatsarchiv oder in der die Nationalbibliothek. "Wir haben das Glück, dass wir hier in Wien großartiges Quellenmaterial vorfinden, aber auch in den polnischen Archiven gibt es interessantes Material", sagt die Osteuropahistorikerin. Insbesondere die Aufzeichnungen der Habsburgerarmee sind unglaublich detailliert. "Man macht sich ja gar keine Vorstellungen davon, was eine Armee alles aufschreibt", ergänzt Zeit- und Militärhistorikerin Kerstin von Lingen, Co-Projektleiterin.

Grabsteine für treue Weggefährten

Im Zuge der Archivaufarbeitung haben sich mehrere Themenkomplexe herausgebildet, wie z.B. sanitäre Versorgung, Umweltzerstörungen oder Mensch-Tierbeziehungen. Die Schlachten führten oft zu tausenden Kriegsopfern an nur einem einzigen Tag. Wurden zu Kriegsbeginn oft noch Grabsteine für die treuen Kampfgefährten errichtet, findet man diese im Kriegsverlauf immer weniger, einfach weil der Aufwand zu groß war. "Da musste überlegt werden, wo die Soldaten bestattet werden können, sodass sie nicht die Ressourcen ihrer eigenen Truppen gefährden, zum Beispiel durch das Grundwasser", erklärt Kerstin von Lingen.

Aber auch die Bestattung von Tieren war ein großes Thema an der Front. Die Rolle von Tieren in der Kriegsführung, vorwiegend waren es Pferde und Hunde, werde landläufig unterschätzt, sagt von Lingen und zitiert Tagesmeldungen, in denen von bis zu 800 toten Pferden die Rede war. Diese mussten natürlich auch bestattet werden, nicht nur aus Gründen der Würde, auch aus hygienischen Gründen. "Ein verwesendes Pferd ist ja eine tickende Zeitbombe für die Gesundheit der Soldaten", ergänzt Jobst.

Erster Weltkrieg im Anthropozän: Umwelt und Imperienfall in Osteuropa

Das vom FWF geförderte und 2021 begonnene Projekt beschäftigt sich mit den konzeptionellen Fragen während der Zeit des Imperienzerfalls. Ziel ist es, die Rolle des "Großen Krieges" als eine der entscheidenden Zäsuren des Anthropozäns zu verstehen, als die Art der Kriegsführung und der Zusammenbruch von Imperien den zerstörerischen Charakter der Interaktion zwischen Mensch und Umwelt verstärkte und die geologische Form der Landschaften in Mittel- und Osteuropa beeinflusste. Das österreichische Projektteam rund um Kerstin S. Jobst und Kerstin von Lingen arbeitet die Ostfront von Seiten der Habsburger auf. Parallel dazu erforscht unabhängig ein russisches Team unter Oxana Nagornaja, aktuell Gerda Henkel Stipendiatin an der Universität Tübingen, die zarische Front.

Brennende Ölfelder und abgeholzte Wälder

Entlang der Frontlinie fanden enorme Umweltzerstörungen statt, alleine für den Bau der Schützengräben wurden tausende Kubikmeter an Holz verbraucht. Diese Abholzung fand natürlich nicht nachhaltig statt. So wurden zum Beispiel bei der Belagerung der Festung Przemyśl alle Wälder rundherum abgeholzt, um freies Schussfeld auf die Festung zu haben. "Das führte dann dazu, dass man in dem Moment, wo es kalt wird, kein Brennholz in der Nähe hatte", sagt von Lingen: "Die militärische Logik steht immer über allem. Das kann dazu führen, dass die Alltagslogik nicht mehr bedient werden kann – mit Grundwasser, Heizung oder Nahrung."

So auch im Fall der galizischen Ölfelder: "Was nicht viele wissen: Galizien war um die Jahrhundertwende der drittgrößte Erdölproduzent weltweit – zwar mit großem Abstand, aber es kam direkt nach USA und Russland. Daher war Öl eine immens wichtige Ressource bei der Kriegsführung und man wollte natürlich nicht, dass die anderen die Ölfelder einnehmen", erklärt Jobst und von Lingen sagt: "Also haben die Russen sie beim Rückzug schlussendlich angezündet, nur um das zu verhindern – eine unglaubliche Verschwendung von Ressourcen."

Unterschied zur Westfront: Armenhaus Galizien

Bereits vor Beginn des Ersten Weltkriegs zählte Galizien zu einer der ärmsten Region innerhalb des Habsburgerreiches und galt landläufig als "unterentwickelt". "Das ist eine der großen Diskrepanzen zur Westfront: Die Schlachtfelder dort waren in einem Gebiet, das man als völlig ebenbürtig ansah, und nicht als unterentwickelt", sagt die Militärhistorikerin: "Beide Armeen hatten den Eindruck, dass sie in einem rückständigen Gebiet sind – vielleicht romantisiert durch die Augen Joseph Roths, aber man kann es auch mittelalterlich nennen. Galizien war für die Soldaten auf beiden Seiten nicht das eigene Terrain, umso leichtfertiger gingen die Zerstörungen vonstatten, da das Gebiet als fremd wahrgenommen wurde."

"Ostgalizien – die Gegend um Lemberg – war von Anfang an als Schlachtfeld geplant. Die Truppen sollten bis zum Fluss San kommen und dort halten", so Jobst: "In den militärischen Planungen des Habsburgerreiches war ganz klar, Ostgalizien wird ein Gebiet, wo man quasi 'richtig reingehen' kann und wo der Krieg ausgefochten wird. Das ist eine ganz wichtige Erkenntnis."

Eines steht für beide Historikerinnen fest, und ist leider nach wie vor aktuell: Die militärische Logik, Hindernisse für die Gegner zu errichten, hat in Kriegszeiten immer Vorrang gegenüber anderen Wirtschaftsinteressen und auch den Grundbedürfnissen der Bevölkerung.

© privat
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Kerstin S. Jobst ist Professorin am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien. Gemeinsam mit Kerstin von Lingen ist sie Sprecherin des Forschungsschwerpunktes "Diktaturen – Gewalt – Genozide" an der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen die Geschichte Ostmittel- und Osteuropas, der Schwarzmeerregion, der Kaukasusregion und der Habsburgermonarchie, vergleichende Imperiums- und Kolonialismusforschung, Erinnerungskulturen und Geschichtspolitik sowie Katastrophenforschung.
© Barbara Mair
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Kerstin von Lingen ist Professorin am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. Gemeinsam mit Kerstin S. Jobst ist sie Sprecherin des Forschungsschwerpunktes "Diktaturen – Gewalt – Genozide" an der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Genozid- und Gewaltgeschichte, insbesondere Holocaust, Dekolonisierungsprozesse (Schwerpunkt Asien), Zeithistorische Rechtsgeschichte, Studien zu Memory, Identity and Apology sowie Migrations-und Zwangsarbeitsforschung.