Blick in die Vergangenheit

Werden wir aus der Geschichte klug?

23. April 2025 von Hanna Möller

Demokratien stecken in der Krise, Kriege wüten, in Deutschland ist die AfD jüngst zweitstärkste Partei geworden. Sollten wir es nicht besser wissen? Warum es uns so schwerfällt, aus der Geschichte zu lernen, fragen wir Historiker Walter Pohl.

80 Jahre nach Kriegsende drohen die Erinnerungen an den 2. Weltkrieg zu verblassen. Um aus der Geschichte für die Gegenwart zu lernen, müssen wir unser historisches Sensorium schulen, so Walter Pohl. Im Bild: Das Denkmal für die ermordeten Jüdinnen und Juden Europas, kurz Holocaust-Mahnmal, in Berlin. © iStock

Rudolphina: Vor rund zehn Jahren, zum 650. Jubiläum der Universität Wien, haben wir bereits mit Ihnen über die Frage "Werden wir aus der Geschichte klug?" gesprochen. Wie fällt Ihre Antwort heute – multiple Krisen später – aus?

Walter Pohl: 2015 habe ich Deutschland als gutes Beispiel dafür angeführt, dass wir durchaus aus der Geschichte lernen können. Damals war Deutschland eines der wenigen Länder Europas, in denen keine rechtspopulistischen Parteien im Parlament saßen und bestimmte Dinge in der Öffentlichkeit einfach nicht gesagt werden durften. Der Wind hat sich gedreht – offenbar kann man aus der Geschichte nicht nur lernen, wir können auch verlernen.

Was wir aus der Geschichte sehr gut wissen sollten, ist, dass Menschen in komplexen Situationen auf einfache Rezepte anspringen. Das mündet im Anti-Demokratischen, im Anti-Intellektuellen, Anti-Wissenschaftlichen, in einer Abwehrhaltung gegenüber dem vermeintlich Anderen. Obwohl wir es besser wissen sollten, sehen wir uns aktuell (wieder) mit diesen Tendenzen konfrontiert.

Veranstaltungen rund um "80 Jahre Kriegsende"

Am 8. Mai 2025 jährt sich das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 80. Mal. Was bleibt, ist die zentrale Aufgabe, die Erinnerung wachzuhalten. Die Historisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät hat aus diesem Anlass verschiedenen Aktivitäten zusammengestellt. Zum Programm

Rudolphina: In Ihrem Forschungsgebiet Mittelalter schauen Sie sich insbesondere Migrationsphänomene an. Womit beschäftigen Sie sich aktuell?

Pohl: Völker und Nationen werden oft als Subjekte der Geschichte wahrgenommen, die etwas Unveränderliches an sich haben. Sie verfolgen eine bestimmte Mission oder haben Ansprüche auf Territorien. Doch die Zusammensetzung eines Volkes kann sich verändern, durch Wanderungen, Spaltung oder Vereinigung. Ein Volk, das irgendwo aufbricht, ist nicht das dasselbe Volk, wenn es anderswo ankommt. In einem internationalen Großforschungsprojekt bündeln wir gerade das Wissen aus Geschichte, Archäologie, Anthropologie und Archäogenetik und werten über 6.000 Proben aus, die wir aus Gräbern des 4. bis 9. Jahrhunderts nach Christus in Ostmitteleuropa gesammelt haben. Wir untersuchen, woher die Menschen kamen, welche genetischen Unterschiede sie aufwiesen und wie das in ihre Wahrnehmung als "Volk" hineinspielt.

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Die Zeithistorikerin Lucile Dreidemy beschäftigt sich intensiv mit dem Austrofaschismus und der Frage, was wir aus der Geschichte lernen können. Der Blick zurück sei heute freilich nicht genug, um die angeschlagene Demokratie zu bewahren: Dazu brauche es auch ein konsequentes sozialpolitisches Engagement.

Rudolphina: Gibt es schon erste Ergebnisse aus dem Projekt?

Pohl: In einer aktuellen Publikation in "Nature" geht es um zwei Gräberfelder südlich von Wien, in Leobersdorf und Mödling, aus dem 8. Jahrhundert nach Christus. Kultur und Bestattungsbräuche waren an beiden Orten ganz ähnlich. Doch finden wir in Mödling fast ausschließlich Überreste von Menschen europäischer Abstammung, während in Leobersdorf ostasiatische Herkunft weit überwiegt.  Quellen belegen, dass rund 200 Jahre zuvor eine Gruppe von Awaren aus Ostasien nach Europa gekommen war. Wir folgern daraus, dass die gelungene kulturelle Integration nicht unbedingt zur biologischen Integration geführt hat. Schon damals bestimmte also die genetische Zugehörigkeit nicht unbedingt die kulturelle Identität.

Rudolphina: Mit dem Thema Migration wird heutzutage häufig Wahlkampf betrieben. Was würde uns wohl ein Mensch aus dem Mittelalter raten, dessen Leben von Mobilität geprägt war?

Pohl: Die Frage kehrt unseren historischen Blick quasi um: Wir haben in der Geschichtswissenschaft zwar häufig das Gefühl, dass wir mit unseren Quellen in einen Dialog treten, aber natürlich können diejenigen, deren Texte wir lesen, sich nicht dazu äußern. Ich vermute, einem vornehmen Bewohner der Stadt Rom in der Zeit des römischen Imperiums würde das Problem, das viele Menschen mit Migration haben, nicht einleuchten. Schließlich beruhte der Erfolg des Römischen Reiches gerade darauf und es wurde eine bewusste Migrationspolitik betrieben, um Arbeitskräfte in das Reich zu holen. 200 Jahre später, im Rom des 6. Jahrhunderts, würde Papst Gregor der Große vielleicht schon skeptischer sein. Aus seinen Briefen, die erhalten geblieben sind, wissen wir, dass er die Langobarden, die kurz zuvor von der Donau mit Waffengewalt in Italien eingedrungen sind, gerne wieder losgeworden wäre. Aber bewaffnete Eroberer unterscheiden sich ja auch sehr von jenen Menschen, die heutzutage als Arbeitskräfte und Schutzsuchende nach Europa kommen.

CU-Remember: Erinnerungsarbeit neu denken

80 Jahre nach Kriegsende drohen die Erinnerungen an den 2. Weltkrieg zu verblassen. Das Kinderbüro der Universität Wien hat gemeinsam mit eucu.net das Projekt CU Remember gestartet, um komplexe Ereignisse wie den Holocaust und seine Folgen, die Bedeutung von Demokratie und Menschenrechten jungen Menschen zu vermitteln. Ein interdisziplinäres Team aus Wien und Triest entwickelt dazu seit Frühjahr Vermittlungsformate, um Empathie und Engagement für demokratische Werte zu fördern.
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Rudolphina: Heute werden uns insbesondere auf Social Media Nachrichten zugespielt, die unsere eigenen Annahmen bestätigen, Stichwort Filterblase. Ist es angesichts dessen vielleicht auch schwieriger geworden, aus der Geschichte zu lernen?

Pohl: Ja, das denke ich schon. Unsere Gesellschaft ist komplex, aber auch ihre Geschichte ist komplex. Ziehen wir wieder das Mittelalter als Beispiel heran, eine Zeit, die uns durch die Bauten um uns herum oder Filme irgendwie vertraut erscheint. Dadurch sind wir verleitet, unsere Vorstellungen in diese Zeiten einfach hineinzuprojizieren – doch das ist meistens die falsche Herangehensweise. Wenn man sich viel mit Geschichte beschäftigt, lernt man die Andersartigkeit des Denkens verstehen. Wie versetzt man sich in ein anderes Mindset, in eine andere Mental Map hinein? Man entwickelt ein sehr feines Sensorium dafür, welche Aussagen plausibel sind und was einfach Behauptungen sind, die aus einer bestimmten Haltung oder bestimmten Interessenslage entspringen. Diese Art von Sensorium ist meiner Ansicht nach auch wichtig, um sich in der gegenwärtigen, medialisierten Welt zurechtzufinden. 

Rudolphina: Haben Sie einen Tipp für Nicht-Historiker*innen, um ihr Sensorium zu schulen?

Pohl: Was ich natürlich gerne empfehle, ist der Blog unseres Exzellenzclusters EurAsian Transformations, der jetzt seit über einem Jahr mit spannenden Geschichten aus 3000 Jahren Eurasien befüllt wird. Daran beteiligt sind über 60 Forscher*innen der Universität Wien, der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, der Central European University und der Universität Innsbruck. In den Beiträgen geht es um die Aufarbeitung von historischen Quellen, um Macht, Herrschaft und Imperien, sowie um ökologische Veränderungen und gesellschaftliche Auswirkungen – Themen, die auch gegenwärtig relevant sind.

Rudolphina: Vielen Dank für das Gespräch! (hm)

Walter Pohl war bis 2021 Professor für Geschichte des Mittealters und Historische Hilfswissenschaften an der Universität Wien und Direktor des Instituts für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen die Verwandlung der römischen Welt und die Reiche des Frühmittelalters, ethnische Prozesse und Identitäten zwischen Antike und Mittelalter sowie Migrationsbewegungen.