Wie illiberal sind Europas rechte Parteien?
Wie illiberal wird das Europäische Parlament (EP) sein, nachdem die Wähler*innen im Juni 2024 ihre Stimme abgegeben haben? Meinungsumfragen prognostizieren, dass die Parteien, die oft als „populistisch“, „illiberal“ oder einfach als „rechtsextrem“ bezeichnet werden, signifikant zugewinnen werden. Es liegt auf der Hand: Wenn diese Parteien stärker werden, könnte die EU ihre politische Schwerpunktsetzung grundlegend verändern, und zwar von einer Förderin kulturell linker Politik (wie Umwelt und Gleichstellung) hin zu einer restriktiveren und konservativeren Politik (mit Fokus auf Themen wie Grenzsicherheit und Anti-Einwanderungs-Gesetze).
Ein illiberales EU-Parlament?
Einer solchen Einschätzung liegt jedoch eine wichtige Frage zugrunde: Wenn die kulturell extreme Rechte ihre Präsenz im EP verstärkt, wie illiberal wird das neue Parlament dann sein? Eine Partei ist illiberal, so Jane Mansbridge, wenn sie versucht, die „Konstellation von Verfassungsgrundsätzen und -praktiken, die den Einzelnen vor dem Staat schützen, in Frage zu stellen.“ Dieses Verständnis bezieht sich auf die Rechtsstaatlichkeit, den Verfahrensschutz für politische Minderheiten und die Gewaltenteilung zwischen Justiz, Exekutive und Parlament.
Eine wichtige Frage ist daher, inwieweit rechtsgerichtete Parteien im EP eine Schwächung verfassungsrechtlich garantierter Grundsätze befürworten, wie etwa die Einschränkung der Autorität der Justiz und der freien Medien? Auch wenn die Parteien ihre illiberalen Ziele möglicherweise nicht offen vertreten, scheinen viele Expert*innen überzeugt, dass ein Rechtsruck des EP zu einer Zunahme des Illiberalismus führen wird.
Dies liegt daran, dass die beiden Aspekte miteinander verflochten zu sein scheinen: Die meisten illiberalen Parteien befürworten auch kulturell konservative oder sogar extrem rechte Politik (wie einwanderungsfeindliche und Anti-LGBTQ+-Politiken). Beispiele hierfür sind Ungarn, Polen und – über Europa hinaus – Israel und die USA.
Demokratie im Vorlesungsverzeichnis
2024 gilt als ein sogenanntes Superwahljahr: am Kalender stehen u.a. Russland, Indien, die Europäische Union, Nationalratswahl in Österreich und Präsidentschaftswahl in den USA. Wir haben im Vorlesungsverzeichnis geblättert und eine Auswahl an Lehrveranstaltungen rund um Wahlen, Demokratie, Europa und Governance zusammengestellt.
Die Nuancen der rechten Parteien
Fallstudien stehen jedoch im Widerspruch zu einer solchen Pauschalbeurteilung. Sie deuten darauf hin, dass der Grad des Illiberalismus selbst unter den kulturell extremen Rechten ziemlich variiert. Während einige Parteien dieses Flügels (wie die ungarische Fidesz, die polnische PiS oder die deutsche AfD) eindeutig illiberal sind (sie wollen Verfassungsgerichte schwächen, den Schutz politischer Minderheiten verringern und die freie Presse einschränken) – scheinen andere wie die niederländische PVV oder die norwegische Fremskrittspartiet einen klaren Fokus auf illiberale Politik zu meiden.
Die Forschung zum Grad des Illiberalismus unter den Parteien steckt noch in den Kinderschuhen. Es gibt nur wenige systematische Versuche, empirisch zu messen und zu beschreiben, inwieweit Parteien – auch kulturell konservative – in das illiberale Profil passen. Eine zentrale Frage eines Forschungsprojekts, an dem ich seit fast einem Jahrzehnt beteiligt bin, lautet daher: Welche Belege gibt es, um den Grad des Illiberalismus unter allen Parteien in Europa, insbesondere aber unter den extrem Rechten, systematisch zu beschreiben?
Wie illiberal sind die kulturell extrem rechten Parteien?
Werfen wir zunächst einen Blick auf das Ausmaß, in dem die Parteien illiberale Politik verfolgen. In Zusammenarbeit mit Stephen Whitefield (Universität Oxford) haben wir Daten zu 24 europäischen Demokratien gesammelt, um zu beurteilen, ob die Parteien versucht haben, den verfassungsmäßigen Schutz zu untergraben, der „den Einzelnen vor dem Staat schützen“ soll. Wir baten Länderexpert*innen, 205 Parteien hinsichtlich illiberaler und autoritärer Politik zu bewerten. Die Ergebnisse decken sich mit denen aus einem unabhängigen Datensatz, der von der Universität Göteborg im Rahmen des Projekts Variations of Democracy veröffentlicht wurde.
Zunächst wurden die Parteien in „Parteienfamilien“ eingeteilt – eine klassische Methode, bei der die gemeinsamen Programme gleichgesinnter Parteien zusammengefasst werden, z. B. kommunistisch, grün, zentristisch, nationalistisch. Unsere Analyse erfasst das Ausmaß und die Variation des Illiberalismus innerhalb dieser Familien.
Zuerst stellen wir ein erwartetes Muster fest. Die Mehrheit der Mainstream-Parteien – Grüne, Sozialdemokraten, Zentristen, Christdemokraten – befindet sich auf dem liberalen Ende des Spektrums, nahe dem vollständigen Liberalismus. Die meisten Parteien innerhalb dieser Familien sind im Allgemeinen dem liberalen Lager zuzuordnen. Sowohl die Sozialisten auf dem linken Parteienspektrum als auch die Konservativen auf dem rechten sind immer noch fest auf der liberalen Seite angesiedelt.
Im Gegensatz dazu sind die beiden Extreme – Kommunisten und vor allem Nationalisten (denen die rechtsextremen Parteien zugeordnet werden) – auf der illiberalen Seite zu finden. Dies ist das erwartete Muster – der Median und die Datenverteilung von ideologisch extremen Parteien stehen viel wahrscheinlicher am illiberalen Ende des Spektrums als von Parteienfamilien, die eher dem Mainstream zuzuordnen sind.
Nationalistische Parteien im liberal-illiberalen Spektrum verstreut
Wir bemerken jedoch beträchtliche Unterschiede innerhalb der einzelnen Parteienfamilien. Während die Mainstream-Parteienfamilien weitgehend im liberalen Bereich bleiben (obwohl wir sehen, dass selbst hier die Parteien gelegentlich in illiberales Territorium vordringen, besonders die konservativen Parteien), deckt die nationalistische Parteienfamilie das gesamte Spektrum ab, von völlig illiberal bis hin zu vollkommen liberal. Wir können also nicht automatisch davon ausgehen, dass alle kulturell rechtsextremen Parteien illiberal sind. Einige dieser Parteien scheinen bereit zu sein, rechtsstaatliche Prinzipien zu unterstützen.
Schlussfolgerung: Illiberalismus und die EU-Wahlen
Insgesamt müssen wir zwei Dinge wissen, um die Auswirkungen des wahrscheinlichen Rechtsrucks des nächsten EP zu bewerten. Erstens müssen wir natürlich wissen, was die relative Stärke der Fraktionen ist. Wie stark werden beispielsweise die ID (Identität und Demokratie) und die EKR (Partei Europäische Konservative und Reformer)? Diese Fraktionen vereinen in der Regel Parteien der nationalistischen Rechten in einer europäischen Parteigruppe. Daher ist ihre relative Stärke im EP von großer Relevanz.
Wie unsere Ergebnisse jedoch zeigen, müssen wir außerdem die genaue Parteizusammensetzung dieser Fraktionen kennen. Bestehen sie aus eindeutig illiberalen Parteien? Oder bekennen sich die meisten der kulturell rechtsextremen Parteien in den ID- und ECR-Gruppen zu liberal-demokratischen Prinzipien?
Die Antwort auf diese Frage wird den Charakter des nächsten EU-Parlaments beeinflussen. Wenn beispielsweise die ID-Fraktion von weniger illiberalen Parteien dominiert wird (wie zuletzt der von Le Pen geführte Rassemblement National (RN) in Frankreich), wird sie im nächsten EP einen anderen Ton anschlagen als wenn sie von Parteien wie etwa Fidesz dominiert wird. Ebenso wird die Anwesenheit von mehr oder weniger illiberalen Parteien in der ID und der ECR ihren internen Zusammenhalt beeinflussen. So hat die ID kürzlich angekündigt, dass sie die illiberale AfD aus ihrer Fraktion im derzeitigen EU-Parlament ausschließt.
Kurz gesagt ist eine zentrale Frage, derentwegen wir den Grad des Illiberalismus unter Parteien erforschen: Welche Auswirkungen hat eine größere Präsenz rechter Parteien in europäischen Parlamenten und Regierungen? Ein Thema, das zu wichtig ist, um es zu ignorieren.
Seine Forschungsschwerpunkte sind u.a. politische Parteien und öffentliche Meinung in europäischen Staaten. Derzeit ist er Fulbright – University of Vienna Visiting Professor of Social Sciences am Institut für Staatswissenschaft der Universität Wien.
- Democracy Facing Global Challenges: Varieties of Democracy Report 2019
- Jane Mansbridge: The Evolution of Political Representation in Liberal Democracies: Concepts and Practices
- Robert Rohrschneider - Fulbright – University of Vienna Visiting Professor of Social Sciences an der Fakultät für Sozialwissenscahften
- Institut für Staatswissenschaft