Aus dem Rhythmus: Übergewicht durch Schichtarbeit
Dienstagabend, 21 Uhr, Katrin S. sitzt in der dicht besetzten U-Bahn. Die Krankenpflegerin ist allerdings nicht auf dem Heimweg nach einem After Work-Drink, sondern startet gerade erst in den Arbeitstag: Ihre Schicht in einem großen Wiener Krankenhaus beginnt um 22 Uhr und endet um 6 Uhr Früh. Katrin S. arbeitet in einem sogenannten Wechselschichtsystem, wie es im Krankenhaussektor üblich ist, der einen 24-Stunden-Betrieb aufrechterhalten muss. Zumeist sind die Schichten rotierend in Früh-, Spät- und Nachtschichten eingeteilt. Schon seit Jahren kämpft Katrin S., wie viele ihrer Kolleg*innen, mit Übergewicht – ein Problem, das mit der Schichtarbeit gravierend wurde.
Gewichtszunahme in der Schicht
"Man weiß, dass Schichtarbeit häufig zu Gewichtszunahme führt, und daher auch zu einem Anstieg der damit verbundenen Erkrankungen, wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Typ zwei Diabetes oder Krebserkrankungen", sagt Ernährungswissenschafter Karl-Heinz Wagner, Koordinator des europaweiten Projekts Shift2Health: "Die konkreten Gründe dafür sind noch nicht ausreichend erforscht. Gibt es bestimmte körperliche Parameter, gibt es Unterschiede zwischen Männern und Frauen, zwischen Berufssparten wie dem Gesundheitssektor und der Industrie? Diese Fragen und andere wollen wir in unserer groß angelegten Studie beantworten."
In Österreich arbeiten zwischen 600.000 und 700.000 Menschen im Schichtbetrieb; europaweit sind es 34 Millionen Beschäftigte, das sind insgesamt rund 20 Prozent der arbeitenden Bevölkerung Europas. "Es betrifft also rund ein Fünftel aller Erwerbstätigen. Das ist schon eine Menge und daher umso wichtiger, die Auswirkungen des Schichtarbeitssystems auf das Gewicht, auf den Organismus und die Gesundheit zu untersuchen", betont Wagner. Mit insgesamt 15 Partnerinstitutionen in sieben europäischen Ländern – Österreich, Italien, Deutschland, Polen, Dänemark, Niederlande und Belgien – ist dies die bisher größte europaweite Studie zur Gesundheit von Schichtarbeiter*innen.
Shift2Health: Teil eines EU-weiten Adipositas-Präventionspakets
Shift2Health mit einer Laufzeit von 2024 bis 2028 ist eines von insgesamt acht genehmigten Projekten im Rahmen eines EU-Calls zu Adipositas-Prävention. Adipositas ist in Europa ein großes Problem, da Übergewicht stark am Steigen ist und damit auch verbundene Erkrankungen, wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Typ-2-Diabetes oder Krebserkrankungen. Daher ist es EU-weit ein Anliegen die Mechanismen dahinter zu kennen, um Übergewicht besser vorzubeugen und generell zu reduzieren. Alle geförderten Projekte sind auch Teil des EU-weiten Obesity Clusters, um Wissen zu teilen und die Auswirkungen der Forschung auf die Gesellschaft zu verstärken.
Gesundheits- und Industriesektor im Fokus
Untersucht werden Beschäftigte sowohl im weiblich dominierten Gesundheitssektor als auch im Industriesektor, wo vorherrschend Männer tätig sind. "Die große Stärke unseres Projekts ist, dass wir mit dem Gesundheits- und Industriesektor einen sehr großen Bereich abdecken können, wo Schichtarbeit traditionell eine Rolle spielt", sagt Katrin Scionti, Projektmitarbeiterin am Department für Ernährungswissenschaften der Uni Wien.
Die erste große Querschnittsstudie steht kurz vor dem Beginn: Sie untersucht in fünf Ländern – Österreich, Deutschland, Polen, Dänemark und Niederlande – insgesamt 1.000 Arbeiter*innen je zur Hälfte in Tag- und Nachtschicht.
Wie steht es um Ihre Gesundheit? Proband*innen gesucht!
Sie sind Schichtarbeiter*in im Gesundheitssektor oder in der Industrie? Sie möchten an einer der größten europaweiten Studien zu Schichtarbeit, Übergewicht und Gesundheit teilnehmen? Kontaktieren Sie das Projektteam per Email an: shift2health.ew[at]univie.ac.at
- Alle Infos zur Studie
- Direkt zur Online-Umfrage SHIFT2HEALTH (15 min)
"Die Proband*innen, mit denen wir sprechen, freuen sich, dass in diesem Projekt einmal das Pflegepersonal im Fokus steht und nicht wie so oft die Ärzt*innen", erzählt Projektmitarbeiterin Vanessa Schoissengeier vom Department für Ernährungswissenschaften: "Es gibt viele Pflegekräfte, die übergewichtig sind und das ändern wollen. Die meisten finden es durch die Nachtschichten und das unregelmäßige Essen sehr schwierig abzunehmen. Viele beobachten auch, dass sich ihr allgemeiner Gesundheitszustand verschlechtert hat, seit sie im Schichtdienst arbeiten."
Vom Ernährungsverhalten bis zum Mikrobiom
Um ein möglichst umfassendes Gesamtbild zu bekommen, werden in der Studie vielfältige Parameter untersucht. Neben dem Ernährungs-, Schlaf- und Bewegungsverhalten schauen sich die Wissenschafter*innen etwa auch die Sensorik an, also ob es Unterschiede in Präferenzen für den Geschmack gibt. Die Projektpartner an der Charité in Berlin beispielsweise bestimmen den Chronotypen der Proband*innen, also welcher Schlaftyp sie sind. Macht es einen gesundheitlichen Unterschied im Schichtdienst, ob ich Morgenmuffel oder Morgenmensch bin? Weiters werden Entzündungs-, Stress und metabolische Marker wie z.B., Cholesterin und Triglyceride ausgewertet.
"Bei all diesen Parametern interessiert uns auch, wie sie sich im Laufe einer Tag- oder Nachtschicht verändern, d.h. wir nehmen den Proband*innen während der Schichten mehrmals Blut ab", erklärt Wagner: "Interessant ist dabei auch die jeweilige Melatonin-Kurve, also die Kurve des Hormons, das den Tag-Nacht-Rhythmus steuert. Nicht nur wir Wissenschafter*innen, auch die Proband*innen haben viel zu tun und müssen uns viel liefern. Und das über einen jeweiligen Studienzeitraum von ein bis zwei Wochen."
Ein wichtiges Kriterium, das auch untersucht wird, ist das metabolomische Muster, das umfasst die charakteristischen Stoffwechsel-Eigenschaften im gesamten Organismus, sowie das sogenannte Mikrobiom, also die Darmflora. Mittlerweile weiß man, dass es eine sehr große Rolle in vielen Bereichen der Gesundheit spielt. "Hier arbeiten wir eng mit David Berry vom Centre for Microbiology and Environmental Systems Science an der Uni Wien zusammen, eine der vielen spannenden Kooperationen in unserem Projekt", freut sich Wagner.
Das Mikrobiom und unsere Gesundheit
Im Projekt Shift2Health ist der Mikrobiologe David Berry von der Uni Wien für die Mikrobiomuntersuchungen der Proband*innen zuständig. Rudolphina sprach mit dem Professor für Humane Mikrobiomforschung über die Rolle der Darmflora bei Erkrankungen wie Adipositas.
Rudolphina: Wie beeinflussen Darmbakterien unsere Gesundheit, und wie kann man sie untersuchen?
David Berry: Jede*r von uns beherbergt Hunderte von Arten von Mikroorganismen, die in und auf uns leben, was als das menschliche Mikrobiom bezeichnet wird. Das Mikrobiom spielt eine wichtige Rolle für die richtige Entwicklung und Gesundheit. Forscher*innen nutzen modernste Instrumente wie die metagenomische Sequenzierung, um das Mikrobiom und sein genetisches Potenzial zu charakterisieren. Die aktuelle Mikrobiomforschung konzentriert sich auf die Suche nach Mikroben, die als Indikatoren für Krankheiten dienen können, sowie auf die Entwicklung neuer Möglichkeiten, das Mikrobiom gezielt zur Verbesserung der Gesundheit einzusetzen.
Rudolphina: Haben Menschen, die an Adipositas leiden, ein spezifisches Mikrobiom?
David Berry: Adipositas ist eine komplexe Stoffwechselstörung und wird daher von mehreren genetischen und nicht genetischen Faktoren beeinflusst. Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass Menschen mit Fettleibigkeit ein verändertes Darmmikrobiom haben. Außerdem deuten einige Forschungsergebnisse darauf hin, dass dieses veränderte Mikrobiom die Insulinresistenz und die Fettspeicherung beeinflussen kann. Da das Mikrobiom den Stoffwechsel, die Immunfunktion und das endokrine System beeinflussen kann, sind weitere Forschungsarbeiten erforderlich, um die genaue Rolle der verschiedenen Mikroorganismen bei der Fettleibigkeit zu verstehen.
Rudolphina: Was sagt die Zusammensetzung des Mikrobioms über den allgemeinen Gesundheitszustand eines Menschen aus?
David Berry: Jeder Mensch hat einen einzigartigen Mikrobiom-"Fingerabdruck", der viele Einflüsse widerspiegelt, z.B. seine Vorgeschichte, Genetik, Ernährung, Medikamente und Lebensweise. Es gibt kein einheitliches "gesundes Mikrobiom". Eine Verarmung des Mikrobioms durch die Einnahme von Breitbandantibiotika oder durch eine ballaststoffarme Ernährung, die für die Vielfalt des Mikrobioms sehr wichtig ist, kann sich jedoch negativ auf den Gesundheitszustand eines Menschen auswirken und ihn für Krankheiten prädisponieren. Aus diesem Grund haben wir unter anderem das partizipative Projekt BaMiKo: Ballaststoffe, Mikrobiologie und Kochen zum Thema Darmgesundheit für Jugendliche und junge Erwachsene ins Leben gerufen. Hier arbeiten wir mit österreichischen Schüler*innen zusammen, um eine ballaststoffreiche Ernährung zu fördern und das Bewusstsein für die Bedeutung von Ballaststoffen für das Mikrobiom und die Gesundheit zu stärken.
Der Einfluss der Ernährung
Dass die Ernährungsweise generell und insbesondere auch unsere Essenszeiten einen großen Einfluss auf Gewicht und Gesundheitszustand haben, liegt auf der Hand. Ob auch gewisse Inhaltsstoffe einen Einfluss auf das Schlaf- und Wachverhalten haben können, ist bislang im Zusammenhang mit Schichtarbeit noch nicht untersucht. Auch das soll sich nun durch das Shift2Health-Projekt ändern: "Hierzu definieren wir bestimmte Inhaltsstoffe, die möglicherweise einen Einfluss haben, etwa bestimmte Stämme von Mikroorganismen, die in Joghurts enthalten sind", erklärt Wagner: "Diese werden den Proband*innen verabreicht und untersucht, ob und inwiefern sich ihr Stoffwechsel dardurch verändert, wieder mit Blick auf die verschiedenen Parameter."
Die Ergebnisse des groß angelegten EU-Projekts sollen direkt den Betroffenen zugute kommen, sowohl den Beschäftigten als auch den Firmen. "Wir publizieren ein Handbuch mit Empfehlungen für die Arbeiter*innen und die Betriebe, es wird Videos mit Informationen zu Schichtarbeit, Ernährung und Bewegung geben und wir werden auch Workshops zum Thema anbieten", fasst Karl-Heinz Wagner den geplanten Output des Projekts zusammen: "Ein großes Ziel ist es, neue Richtlinien auf EU-Ebene für Schichtarbeiter*innen zu formulieren. Denn diese Gruppe hat bis jetzt keinerlei Guidelines für den Umgang mit ihrer Ernährung und ihrer Gesundheit."
Wagner ist außerdem Dekan an der Fakultät für Lebenswissenschaften.