Eine neue Mathematik, die schwarze Löcher besser verstehbar macht
Sie befassen sich mit dem Einsatz von metrischer Geometrie für Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie. Können Sie dieses Forschungsgebiet kurz umreißen?
Clemens Sämann:
Die Relativitätstheorie ist in der Lorentz’schen Geometrie formuliert, die für die Darstellung einer vierdimensionalen Raumzeit besonders gut geeignet ist. Nach über 100 Jahren gibt es noch immer neue Dinge zu entdecken, die Einstein bestätigen – beispielsweise das schwarze Loch in der Mitte unserer Galaxie, das erst vor Kurzem vom Radioteleskopverbund Event Horizon Telescope aufgenommen werden konnte. Mathematisch gibt es aber auch noch viel zu tun. Denn gerade bei schwarzen Löchern, bei denen die Raumkrümmung – mathematisch betrachtet – unendlich wird und in eine Singularität mündet, sind die Differenzialgleichungen der Relativitätstheorie nicht mehr praktikabel.
Es braucht einen anderen Zugang, um die Raumkrümmung beschreiben zu können. Dafür bietet sich ein anderes Feld in der Mathematik an: die sogenannte metrische Geometrie. Wir hatten als Erstes die Idee, diesen – bisher für diesen Zweck nicht anwendbaren – Ansatz für die Konzepte der Relativitätstheorie zu nutzen. Die Verbindung hat das Potenzial, einen anderen Blickwinkel auf die Geometrie von Raumzeiten und damit von schwarzen Löchern zu eröffnen.
START-Projekt von Clemens Sämann
Das Projekt "Lorentzian Length Spaces" versucht eine neue mathematische Betrachtungsweise für Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie zu etablieren. Mithilfe eines neuen Zugangs soll der – bisher für die Relativitätstheorie nicht anwendbare – Ansatz der metrischen Geometrie für die Beschreibung der Raumzeit nutzbar gemacht werden. Damit könnten sich neue Erkenntnisse zu Phänomenen wie der Raumkrümmung oder schwarzen Löchern gewinnen lassen.
Auf welcher Idee basiert die Forschung?
Sämann:
Die metrische Geometrie beschreibt den Raum über die kürzesten Wege zwischen verschiedenen Punkten. Die Wege verändern sich mit der Geometrie eines Raumes. In der Relativitätstheorie sind diese Distanzen aber nicht relevant. Nachdem die Lichtgeschwindigkeit konstant ist, gibt es eine Längenkontraktion: Wenn sich also ein Beobachter schnell bewegt, verändert sich die beobachtete Distanz – es gibt keine absoluten Längen mehr.
Wir versuchen nun, die Philosophie der metrischen Geometrie dennoch auf die Relativitätstheorie anzuwenden. Der Schlüssel dafür sind die sogenannten Zeitdistanzen in der Relativitätstheorie. Sie beschreiben nicht den kürzesten, sondern auf gewisse Weise den längsten Weg zwischen zwei in Relation zueinander stehenden Punkten innerhalb einer vierdimensionalen Raumzeit. Der Begriff der Zeitdistanz widerspricht unserem intuitiven räumlichen Verständnis. Beispielsweise machen Umwege in der Raumzeit, für die Energie aufgewendet werden muss, die Distanz kürzer, nicht länger. Dennoch kann die Zeitdistanz als Bindeglied zur metrischen Geometrie dienen.
Welche Erkenntnisse sind zu erwarten?
Sämann: Ein Ausgangspunkt unserer Forschungen ist die Arbeit von Roger Penrose. Der Wissenschafter hat 1965 in seinem Singularitäten-Theorem gezeigt, dass sich eine mathematisch präzise Definition einer Singularität von einem physikalischen schwarzen Loch unterscheidet. Er erhielt dafür 2020 den Nobelpreis. Es könnte beispielsweise sein, dass die Raumkrümmung in der Singularität gar nicht unendlich wird, sondern ein tatsächliches "Loch" in der Raumzeit den Kern bildet. Wir hoffen, dass wir durch unseren Zugang mehr über diese von Penrose erkannte Lücke zwischen Physik und Mathematik herausfinden können.
Mehr über das START-Programm des FWF
Das Karriereprogramm des Wissenschaftsfonds FWF richtet sich an junge Spitzenforschende, denen die Möglichkeit gegeben wird, auf längere Sicht und finanziell weitgehend abgesichert ihre Forschungen zu planen. Der FWF-START-Preis ist mit bis zu 1,2 Millionen Euro dotiert und zählt neben dem FWF-Wittgenstein-Preis zur prestigeträchtigsten und höchstdotierten wissenschaftlichen Auszeichnung Österreichs.
Die START-Preisträger*innen der Universität Wien 2023 sind die Umweltmikrobiologin Barbara Bayer, die Zell- und Entwicklungsbiologin Stephanie J. Ellis, der Mathematiker Clemens Sämann und der Physiker Marcus Sperling.
Wie sehen nun die ersten Schritte in Ihrem Projekt aus?
Sämann: Im Moment habe ich eine befristete Stelle an der Oxford University in Großbritannien inne. Der START-Preis stellt nun aber alles auf neue Füße. Ich hoffe, in Wien eine langfristige Stelle zu bekommen. Meine frühere Gruppe an der Universität Wien wäre die ideale Umgebung, eine eigene Forschungsgruppe zu starten. Ich habe auch bereits ein paar potenzielle Postdoc-Mitarbeiter*innen im Kopf, die ich für die Gruppe gewinnen möchte.
Was motiviert Sie im Forschungsalltag?
Sämann: Der mathematische Alltag ist von der Arbeit mit Zettel und Stift geprägt. Mehr als fünfzig Prozent der Tätigkeit passieren offline. Daneben ist der Austausch mit Kolleg*innen sehr wichtig, um auf dem richtigen Kurs zu bleiben. Die Arbeit ist unglaublich spannend. Theoretisch kann man vollkommen allein etwas grundlegend Neues entdecken – die Relativitätstheorie ist das beste Beispiel dafür. Wenn hingegen etwas nicht funktioniert, muss man auch allein damit zurechtkommen. Man braucht ein Mindset, das einen auch in frustrierenden Situationen nicht aufgeben lässt. Manchmal ist auch etwas Abstand von der Arbeit wichtig, um auf neue Ideen zu kommen. Als Mathematiker versuche ich, alles zu hinterfragen und ein Problem bis ins kleinste Detail zu verstehen. Ich möchte der Sache wirklich auf den Grund gehen.
Das Interview erschien ursprünglich auf scilog, dem Magazin des Wissenschaftsfonds FWF.