"Homo Cyber" von Peter Reichl
Rudolphina: Herr Reichl, worum geht es in Ihrem Buch und warum haben Sie es geschrieben?
Peter Reichl: Letztes Jahr gab es ein erstaunliches Jubiläum: Der erste Digitalrechner feierte seinen 400. Geburtstag. 1623 baute Wilhelm Schickard aus Tübingen eine Rechenmaschine, die mit Zahnrädern funktionierte und die Grundrechenarten beherrschte.
Rudolphina: Warum ist das ein Digitalrechner?
Peter Reichl: Nun ja, digitales Rechnen bedeutet nichts anderes als das Rechnen mit ganzen Zahlen (wie mit Fingern, "digital" kommt ja vom lateinischen "digitus" = Finger), und genau das konnte Schickards Apparat. Trotz des Jubiläums wurde kaum über diese Geschichte gesprochen. Das ist schade, denn sie illustriert, dass die digitale Technologie nicht vom Himmel gefallen ist, sondern eine lange Geschichte hat.
Es ist aber auch ein Buch über die Frage der Ethik im digitalen Wandel. Informatiker*innen sollten sich dazu viel stärker zu Wort melden, denn sie haben eine Verantwortung. Über KI wird viel gesprochen, aber im öffentlichen Diskurs sind es doch meist Jurist*innen, Politiker*innen, Soziolog*innen, etc., die sichtbar sind, aber kaum jemand aus der Informatik. Eigentlich ist es aber die Informatik, der wir das alles in irgendeiner Form verdanken.
Dabei plädiere ich dafür, alle drei wichtigen Fragen Kants – der zufällig dieses Jahr seinen 300. Geburtstag gehabt hätte – ins Zentrum der Diskussion zu rücken: Nicht nur "Was soll ich tun?", sondern auch: "Was kann ich wissen?" und "Was darf ich hoffen?" So hat sich Kant z.B. in seiner "Kritik der Urteilskraft" mit der Frage der Schönheit beschäftigt. Diese spielt in der heutigen Informatik kaum eine Rolle – zu Unrecht! Die Maschinen, die wir bauen, funktionieren nicht einfach nur, sondern sie haben inhärent auch immer eine bestimmte Ausrichtung, einen Bias. Technologie ist eben nicht neutral, wie oft behauptet wird. Warum sollte diese Ausrichtung nicht auch einmal in Richtung Schönheit gehen, nicht nur Richtung Effizienz? Und so haben sich auch die vier Kapitel des Buches ergeben: "Das Wahre", "Das Gute", "Das Schöne", und "Der Mensch".
Rudolphina: Wer sollte Ihr Buch lesen und warum?
Peter Reichl: Ich habe es so geschrieben, dass man einiges über Informatik lernt, aber auf eine ganz andere Weise, als man erwarten würde. Ich interessiere mich sehr für die Geschichte der Informatik, wie man an den vielen mechanischen Rechengeräten hinter mir unschwer erkennen kann. An ihnen kann man vieles sehr anschaulich erklären, denn erstaunlich viele der Prinzipien, die heutigen Computerchips zugrundeliegen, stecken schon in diesen mechanischen Rechnern. Und vor allem kann man sie anfassen und genau beobachten, was da passiert.
Rudolphina: Können Sie ein Beispiel nennen?
Peter Reichl: Mein Lieblingsbeispiel ist eine "Künstliche Intelligenz" namens Dr. Nim, im Prinzip die Hardware für ein tolles Computer-Strategiespiel. Das Erstaunliche: Dr. Nim ist komplett aus Plastik. Sein Mechanismus besteht aus mehreren Klappen, durch die Murmeln mit der Schwerkraft nach unten rollen. Die logischen Operationen des Spiels sind in die Schaltmuster der Klappen einprogrammiert. Wenn eine Klappe nach oben oder unten zeigt, entspricht das einem Bit, einer Null oder einer Eins. Dr. Nim ist also tatsächlich ein richtiger digitaler Rechner.
Video: Was Sie schon immer über "Dr. Nim" wissen wollten
In diesem Video demonstriert Peter Reichl Ziel und Ablauf des mechanischen Computerspiels Dr. Nim. Wie diese "mechanische KI" ihre Züge berechnet, erklärt Reichl in der Einleitung von "Homo Cyber".
Rudolphina: Mit dem Beispiel von Dr. Nim steigen Sie ins Buch ein.
Peter Reichl: Genau, denn wenn man gegen Dr. Nim spielt, verliert man in aller Regel, und die Erkenntnis, dass seinen Plastikhebeln augenscheinlich "Intelligenz" innewohnt, ist eine sehr lehrreiche. Wenn es nur Plastikhebel sind, warum ärgern wir uns, wenn wir gegen Dr. Nim verlieren? Das Geheimnis ist: Dr. Nim spielt überhaupt nicht – wir sind es, die diesem rein mechanischen Geschehen eine Bedeutung zuschreiben. Und so geschieht dies auch mit Computerprogrammen und KI. Wenn ChatGPT nacheinander Worte ausspuckt, schreiben wir diesen Worten die Qualität eines Textes zu. Aber es ist kein Text. Es ist die Aneinanderreihung von Worten, basierend auf statistischen Wahrscheinlichkeiten. Natürlich kann ChatGPT nützlich sein, aber es ist wichtig zu verstehen, dass wir der KI vieles andichten, das sie nicht ist. Wenn man das anhand eines mechanischen Beispiels wie Dr. Nim einmal erfahren hat, bleibt diese Tatsache viel besser hängen, als wenn man KI als etwas Mysteriöses betrachtet, das wir nicht verstehen können.
Das ist ein wichtiger Punkt meines Buches: Ich möchte meinen Leser*innen näherbringen, was hinter digitalen Systemen steckt, wo sie tatsächlich interessant sind und wo banal. "Homo Cyber" mag zwar anspruchsvoll sein, aber umso größer ist der Gewinn, wie ich hoffe, da man Zusammenhänge sieht, die man vorher vielleicht noch nicht gesehen hat. Man muss allerdings den Willen mitbringen, ein bisschen über den Tellerrand zu blicken.
Rudolphina: Haben Sie eine Buchempfehlung zum Weiterlesen für alle, denen Ihr Buch gefällt?
Peter Reichl: Ein Standardwerk, das ich sehr empfehlen kann, ist "Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus" von Shoshana Zuboff. Die Autorin zeigt, wie Facebook und Google gelernt haben, wie man durch das Mitloggen von Daten beim Benutzen ihrer Apps – sie nennt das "Datenstaub" – ein florierendes Geschäftsmodell machen kann. Das hat dazu geführt, dass nicht wir die eigentlichen Kund*innen dieser Konzerne sind, sondern die Werbetreibenden. Zuboff hat das brillant analysiert. Sie hat der Öffentlichkeit klar gemacht, dass da ein System dahintersteckt und dass Schneeballeffekte greifen, die letztlich unsere Autonomie infrage stellen. Ohne dieses Buch würde die Welt heute anders ausschauen. Es hat allerdings 700 Seiten und ist daher keine leichte Kost.
Rudolphina: Welches Buch können Sie noch empfehlen, um sich weiter ins Thema zu vertiefen?
Peter Reichl: Interessanterweise hat ein deutscher Kollege parallel zu meinem Buch einen Essay namens "Homo digitalis" geschrieben: Ralf Hanselle beschäftigt sich damit, was wir durch die Digitalisierung zu verlieren und zu vergessen drohen. Zum Beispiel, was es heißt, Kathedralen zu bauen. Kathedralen waren Unternehmungen, die sich über Generationen und Jahrhunderte erstreckten. Wir verlieren also eine zeitliche Perspektive. Wir reden oft davon, was im Jahr 2040, 2050 sein wird. Doch was ist zum Beispiel mit dem Jahr 2200? Wir sollten viel öfter überlegen: Welche Konsequenzen haben unsere Aktionen von heute für die ferne Zukunft? Was wir heute tun, ist für viele nachfolgende Generationen relevant.
Die Schnelllebigkeit des Denkens im Cyberspace lässt uns lang etablierte Bezugspunkte verlieren, wie eben die Kathedralen, oder auch die Bibliotheken. Wenn ich im Digital-Verzeichnis ein Werk suche, finde ich es sofort. Hat es denn nicht auch einen Wert, zufällig ein Buch zu finden, auf das ich sonst nie gekommen wäre? Das ist der Verlust der Leiblichkeit, von der Hanselle spricht, und er fragt sich, was dann von uns übrigbleibt. Das finde ich einen sehr spannenden Zugang zum Thema. Lustigerweise baut der Essay auf ähnlichen Denker*innen wie mein Buch auf. Ich habe ihn mit großem Genuss gelesen.
Ab Oktober 2024: Homo Cyber Teil 2 und Buchpräsentation
Nach dem großen Erfolg von "Homo cyber. Ein Bericht aus Digitalien" widmet sich Peter Reichl im zweiten Band seiner Trilogie brennenden Fragen der Künstlichen Intelligenz. Was, wenn Daten nicht mehr reichen? Stehen wir vor dem Ende der Demokratie, wie wir sie kennen? Was lehrt uns Kunst in diesem Chaos?
Homo cyber: Die Welt als Wille & Betriebssystem erscheint im Oktober 2024. Buchpräsentation in der Buchhandlung "analog" am 24. Oktober 2024 um 19 Uhr.
Rudolphina: Welche Lektüre liegt gerade auf Ihrem Nachtkästchen?
Peter Reichl:"The Thrilling Adventures of Lovelace and Babbage" von Sydney Padua. Charles Babbage war ein englischer Erfinder des 19. Jahrhunderts, der die Vision hatte, den ersten wirklich programmierbaren Computer zu bauen. Seine Entwürfe waren monströs: Die CPU allein sollte viereinhalb Meter hoch werden, der Speicher mindestens sechs Meter lang. Ada Lovelace war eine Mitarbeiterin von Babbage und wurde zur ersten Programmiererin der Geschichte. Ihr Vater war der berühmt-berüchtigte Romantiker Lord Byron, und ihre Mutter tat alles, damit die Tochter nicht auf ähnlich dumme Gedanken kam wie er. Deshalb ließ sie Ada zuhause Mathematik studieren. Wir sprechen hier wohlgemerkt von den 1830er Jahren, als für Frauen an ein Studium nicht zu denken war. Daher war Ada später auch auf ihren Ehemann angewiesen, der ihr Papers aus der Bibliothek abgeschrieben und nachhause gebracht hat.
Leider ist es Babbage nicht gelungen, seine Maschine zu bauen. Dennoch gilt er heute als Vater des programmierbaren Computers und Ada Lovelace als Pionierin der Informatik, als erste Programmiererin. Sie ist eines der wenigen weiblichen Role Models auf diesem Gebiet.
Sydney Paduas Comic erzählt diese grandiose Story mit ein wenig Fantasie – daher der Untertitel: "The mostly true story of the first computer" – und fragt, was gewesen wäre, hätte Babbage seine Maschine gebaut. Es gibt darin beeindruckende Zeichnungen, wie sie in Wirklichkeit ausgeschaut haben könnte. Obwohl Lovelace und Babbage ein kongeniales Duo waren, sind sie wenig bekannt, aber ihre Geschichte verdient es, erzählt zu werden. Dieses Buch ist Informatik mal ganz anders.
Alle Infos zu "Homo Cyber. Ein Bericht aus Digitalien" von Peter Reichl
Die Zeit des digitalen Welpenschutzes ist vorbei. Der Homo cyber und mit ihm die Gesellschaft scheint in ernster Gefahr. Viele renommierte Wissenschafter, die diese Entwicklung voranbrachten, warnen nun mit drastischen Worten. Was bedeutet das für die Bildung? Welches Wissen sichert uns Zukunft? Was lohnt es, die Kinder zu lehren? Worin finden wir heute das Wahre, Schöne, Gute? Vor dem Hintergrund von vier Jahrhunderten Informatikgeschichte zeigt sich: Der digitale Wandel fällt nicht vom Himmel, er ist von Menschen gemacht. Deshalb ist nun entscheidend, dass er auch für die Menschen vorangetrieben wird (Pressetext des Verlags).
Peter Reichl liegen besonders die gesellschaftlichen Auswirkungen des Digitalen Wandels am Herzen, ebenso wie der Wert der humanistischen Bildung und als leidenschaftlicher Klavierspieler auch die Musik.