"Keine Angst vor KI"
Neue Technologien und die damit verbundenen Chancen und Risiken haben Nikolaus Forgó schon immer interessiert: Seine persönliche Internetgeschichte beginnt 1992, als das Internet noch in den Kinderschuhen steckte. Seine Dissertation war 1997 eine der allerersten in Österreich, die man online abrufen konnte. Heute beleuchten er und sein Team in zahlreichen interdisziplinären Forschungsprojekten die Schnittstellen zwischen KI, Datenschutz und Gesellschaft, z. B. KI-gestützte personalisierte Medizin. Als Host des Podcasts "Ars Boni" beweist der Rechtswissenschafter auch sein Talent für Wissenschaftsvermittlung und Freude am Blick über den viel zitierten Tellerrand. Im Vorfeld der Podiumsdiskussion zur Semesterfrage haben wir ihn zu einem Gespräch über KI-Potenziale, Regulierung und Datenschutz getroffen.
Rudolphina: Herr Forgó, wissen wir, was KI wissen wird?
Nikolaus Forgó: Das Unangenehme an der Zukunft ist, dass man sie schlecht antizipieren kann, selbst als Expert*in. Ich glaube, dass man auf Ihre Frage, egal mit welchem fachlichen Hintergrund, seriös nur antworten kann: Nein, wir wissen nicht, was die KI wissen wird. Gerade, weil man die weiteren Entwicklungen so schwer vorhersagen kann, versucht man, die möglichen Risiken politisch und juristisch einzuhegen. Und zwar, bevor wir feststellen müssen, dass wir nicht wussten, was die KI weiß.
Rudolphina: Sie spielen auf das neue EU AI-Gesetz an. Gemeinsam mit der Politikwissenschafterin Barbara Prainsack haben Sie in einem aktuellen Aufsatz Kritik daran geäußert. Was sind denn Ihrer Meinung nach die Aspekte, die bei dem Gesetz zu kurz kommen?
Nikolaus Forgó: Das EU AI-Gesetz enthält eine Risikoklassifizierung in vier Stufen: Inakzeptabel, hoch, begrenzt und vernachlässigbar. Diese Klassifizierung setzt bestimmte Annahmen über die Zukunft voraus, und auch diverse ethische Überzeugungen, die nicht immer in aller Breite diskutiert wurden. Nehmen wir das Beispiel der Echtzeitvideoüberwachung: Wollen wir Überwachungssysteme, die Personen mithilfe von KI "live" identifizieren? Ursprünglich gab es da ein klares Nein. Aber dann wurde sehr lange darüber diskutiert, ob man wirklich ein Nein will. Und jetzt haben wir, vereinfacht gesprochen, einen Text, der sagt: Wir wollen so etwas nicht in Europa, außer wir brauchen es. Das Gesetz sieht also vor, dass unter bestimmten Voraussetzungen, Stichwort schwere Kriminalität, ein solches System eingesetzt werden kann. Es gibt sicher gute Argumente, die dafür sprechen und auch solche, die dagegen sprechen. Aber ich hätte mir gewünscht, dass die Diskussion über solche Fragen sehr viel breiter geführt würde, denn sie hat nur wenige Fachleute erreicht.
Das Gesetz ist zwar sehr lang und komplex, ist aber inhaltlich sehr auf das Thema Risiken fokussiert. Deutlich weniger beschäftigt sich der Text mit der Frage, wie er mit anderen europäischen Gesetzen zusammenspielen soll – etwa mit der Datenschutzgrundverordnung und dem Digital Services Act. Das hat praktische Auswirkungen: Welche Behörde ist überhaupt zuständig, wenn ich in irgendeiner Weise Opfer einer KI geworden bin oder eine solche einsetzen will? Das ist nicht klar. Darüber ist erstaunlich wenig nachgedacht worden.
Und das Gesetz ist so risikozentriert, dass das Thema Potenziale darin kaum zur Geltung kommt. Man hätte viel mehr darüber nachdenken können, was zu tun ist, um das Interesse des Gemeinwohls zu stärken, und nicht nur jenes von großen Unternehmen.
Rudolphina: Wo sehen Sie denn die Chancen für die Allgemeinheit?
Nikolaus Forgó: Unsere Welt ist sehr komplex geworden. Das macht es in vielen Situationen schwierig, fundierte Entscheidungen im besten eigenen Interesse zu treffen. Einem Arzt oder einer Ärztin müssen Sie vertrauen, ohne zu wissen, was die persönliche Risikoaffinität der anderen Person ist. Wenn Sie einen schlimmen Husten haben, wägt der oder die Mediziner*in ab und berät Sie entsprechend: Machen wir ein Lungenröntgen oder nicht? Neun von zehn Husten sind vielleicht harmlos. Schickt der Arzt jeden der zehn Fälle ohne Röntgen nachhause, nimmt er in Kauf, den einen nicht harmlosen Fall zu übersehen. Dafür wird aber niemand unnötig einer vielleicht schädlichen Strahlung ausgesetzt. Ist es stattdessen besser, alle zehn Patient*innen zu röntgen, obwohl das bei neun von zehn nicht notwendig ist?
Von solchen Entscheidungen sind wir persönlich stark betroffen, wir wissen aber nichts von der Risikoaffinität unserer Ärztin oder unseres Arztes. KI könnte hier vielleicht mehr an Autonomie zurückgeben. Eben wenn man solche Entscheidungen nicht an ein unbekanntes Gegenüber delegiert, sondern an eine individualisierbare, lernfähige Risikowahrnehmung, die man selbst für richtig hält. Wie wichtig ist es mir, das Lungenröntgen zu machen im Vergleich dazu, den Strahlen ausgesetzt zu sein, zum Beispiel. Dieses Mehr an Autonomie halte ich für eines der größten Potenziale von KI.
Wir wissen nicht, was KI wissen wird. Deswegen müssen wir früh genug darüber reden, wie wir regeln, dass wir nicht wissen werden, was KI wissen wird.Nikolaus Forgó
Rudolphina: Aber wie nachvollziehbar sind denn die KI-Entscheidungen?
Nikolaus Forgó: Vielleicht ist es mir gar nicht so wichtig, wie die KI darauf kommt, solange ich ihr vorgegeben habe: Schicke mich im Zweifel immer zum Röntgen, oder schicke mich nur, wenn ich mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Problem habe.
Aber ich stimme zu, dass Transparenz hier eine wichtige Frage ist. Es liegt ein großes Risiko darin, Entscheidungen auf Grundlage der Daten der Vergangenheit zu treffen. Wenn in den Daten Vorurteile oder irgendwelche anderen unbekannten Faktoren enthalten sind, funktioniert die KI-Entscheidungsfindung nicht so, wie sie soll.
Rudolphina: KI-Innovationen werden derzeit vor allem von großen Tech-Konzernen vorangetrieben. Wo sehen Sie die Rolle der Universitäten, der Wissenschaft oder konkret der Uni Wien?
Nikolaus Forgó: Wir haben derzeit ein enormes wissenschaftspolitisches Problem: Auch für die großen Universitäten, selbst die amerikanischen, ist es nahezu unmöglich geworden, in der KI-Forschung wettbewerbsfähig zu bleiben. Das heißt, wie haben das vielleicht erste Mal überhaupt in der Geschichte der westlichen Wissenschaft den Fall, dass die Universitäten in einem sehr wichtigen Forschungsgebiet keine große Rolle spielen, weil die private Forschung die Oberhand hat.
Aus dieser Situation ergeben sich mehrere Herausforderungen: Man müsste überlegen, wie man private Forschung sinnvoll regulieren kann, sodass sie nicht nur die Interessen ihrer Aktionär*innen, sondern auch das Gemeinwohl fördert. Wir haben zwar grundsätzlich wettbewerbsfähige Grundlagenforschung in Europa, auch im Bereich KI, die sich aber schwer damit tut, etwas zu entwickeln, das auf den Markt kommt. Und diese Limitierungen müsste man versuchen, so gut wie möglich zu beseitigen.
Rudolphina: Was wollen Sie Ihren Studierenden mitgeben, die in ihrem Berufsleben als Jurist*innen mit KI-Systemen konfrontiert sein werden?
Nikolaus Forgó: Das Wichtigste, was ich ihnen mitgebe: Ich weiß auch nicht, was auf uns zukommt, denn niemand kann die Zukunft vorhersagen. Die zweite Botschaft ist: Man soll sich vor der KI nicht fürchten. Und die dritte wäre: Man lernt in einem Studium nicht mehr als die Bedienung von ein paar Werkzeugen, diese muss man dann in Bereichen anwenden, die man eben noch nicht kennt. Und das wird für die nächste Generation an Juristinnen und Juristen ganz sicher so sein.
Also: Freut euch sehr über diese Entwicklungen, denn sie bringen so viel Arbeit wie noch kaum je etwas davor. Absolvent*innen werden ungeheuer viel zu tun haben, weil es an jeder Ecke ein neues juristisches Problem gibt – durch KI ersetzt werden sie so schnell sicher nicht werden. Die Generation, die jetzt studiert, kommt in einen Markt, der so arbeitnehmerfreundlich ist, wie seit Jahrzehnten nicht mehr.
Ars Boni - der Podcast mit Nikolaus Forgó
Die Podcastreihe Ars Boni beschäftigt sich in bereits mehr als 500 Folgen mit Digitalisierung, Medien, sozialen Krisen – wie der Covid-19-Pandemie – und Recht.
In Folge 449 spricht Gastgeber Nikolaus Forgó mit dem Arzt Christoph Zielinski über Künstliche Intelligenz in der Medizin und ihre rechtlichen Implikationen.
Klicken Sie hier für weitere spannende Uni Wien Podcasts.
Rudolphina: Was sollten wir als Nutzer*innen gängiger KI-Programme in Hinblick auf Privatsphäre und Datenschutz beachten?
Nikolaus Forgó: Wenn man eines der gängigen, unentgeltlich verfügbaren Systeme nutzt, muss einem klar sein, dass man mit den Daten bezahlt, die man dort eingibt – nämlich jede Menge an personenbezogener Information. Das kann datenschutzrechtlich heikel sein, besonders wenn ich Informationen über Dritte eingebe, etwa wenn ich Bilder meiner Familie hochlade und die KI beispielsweise nach deren Alter frage.
Dieses Dilemma lässt sich nur sehr schwer auflösen, insbesondere im Hinblick auf die Einhaltung europäischer datenschutzrechtlicher Standards, wenn dann diese Unternehmen nicht in Europa sind, sondern zum Beispiel in China, und sich daher von der DSGVO nicht wahnsinnig beeindrucken lassen.
Rudolphina: Wo sehen Sie derzeit Wissenslücken oder Aspekte, die in der öffentlichen Diskussion um KI zu wenig vorkommen?
Nikolaus Forgó: Ich glaube, dass man zu wenig über die Potenziale redet. Ich habe den Eindruck, dass man auch in einschlägigen Fachcommunities nach wie vor relativ wenig an technischen Grundlagenkenntnissen voraussetzen kann. Meiner Wahrnehmung nach ist es sehr schwierig – auch mit solider Allgemeinbildung und einem Allgemeininteresse an dem Thema – beurteilen zu können, was da eigentlich geforscht wird und mit welchem Ziel. Das sehe ich auch als eine Aufgabe von Universitäten: mehr Wissen über die Technologien und deren Regulierung zu vermitteln.
Mehr KI-Wissen: aktuelles Lehrangebot an der Uni Wien
Die aktuelle Ringvorlesung Künstliche Intelligenz: Spannungsfelder, Herausforderungen und Chancen eröffnet unterschiedliche Perspektiven zum Thema aus Theorie und Praxis. In der Einheit 11. April sprachen Nikolaus Forgó (Institut für Innovation und Digitalisierung im Recht, Universität Wien) und Florian Schmidt (APA-Faktencheck) zum Thema KI-Regulierung und Faktenchecks: Europas Antwort auf digitale Herausforderungen. Hier können Sie die Vorlesung nachschauen.
Hier finden Sie weitere Infos zum Lehrangebot zum Thema KI im laufenden Semester.
Am 17. Juni um 18 Uhr findet im Großen Festsaal die abschließende Podiumsdiskussion zur Semesterfrage "Wissen wir, was KI wissen wird?" statt – im Anschluss gibt es die Möglichkeit, verschiedene KI-Systeme auszuprobieren.
Er studierte Rechtswissenschaften, Philosophie und Sprachwissenschaften in Wien und Paris. 1997 promovierte er mit einer rechtstheoretischen Dissertation und ist seit 1998 Leiter des Universitätslehrgangs für Informationsrecht und Rechtsinformation an der Universität Wien. Von 2000 bis 2017 war er an der Juristischen Fakultät der Leibniz Universität Hannover tätig. Seit Oktober 2017 ist er Professor für Technologie- und Immaterialgüterrecht an der Universität Wien.