Rudolphina Reads: "Der Westen" von Naoíse Mac Sweeney
Rudolphina: Worum geht es in Ihrem Buch und warum haben Sie es geschrieben?
Naoíse Mac Sweeney: In Der Westen geht es um die Erfindung der Idee von einer westlichen Zivilisation. Damit meine ich, dass das Konzept des modernen Westens eine ganz bestimmte Geschichte hat, die sich über die europäische Aufklärung, die Renaissance und das Mittelalter erstreckt und ihren Ursprung im antiken Rom und Griechenland hat. Es gibt also diese "Geschichte des Westens", diese Vision, die wir westliche Zivilisation nennen. Das Buch zielt darauf ab, dieses Narrativ zu hinterfragen und darzulegen, dass sie erfunden ist. Ziel ist es auch, die genauen Daten zu eruieren, wann diese Geschichte erfunden wurde, nämlich im Zeitraum zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert.
Meine Forschung befasst sich mit der klassischen Epoche des antiken Griechenland, die für uns heute einen politischen und kulturellen Wert hat. Die ganze Idee der antiken griechischen Welt als Vorläufer des modernen Westens ist eine zutiefst politische. Als ich mein Studium der klassischen Archäologie und des antiken Griechenlands begann, war mir das nicht bewusst. Als erfahrene Forscherin ist mir das jedoch immer stärker klar geworden. Ich führte dieses Narrativ einer westlichen Identität fort und ich habe bemerkt, dass ich mich damit nicht ganz wohl fühle. Deshalb habe ich damit begonnen, mich näher mit dem Thema auseinanderzusetzen. Das war auch eine Reise, auf der ich viel über mich selbst gelernt habe und auch darüber, was mein Beruf bedeutet und in welchem Verhältnis er zur heutigen Gesellschaft steht. Das war meine Hauptmotivation, dieses Buch zu schreiben.
Rudolphina: Wer sollte Ihr Buch lesen und warum?
Naoíse Mac Sweeney: Ich möchte mit meinem Buch zwei Zielgruppen erreichen. Einerseits Leser*innen, die sich allgemein für die großen Themen der Geschichte interessieren. Menschen, die gerne umfassende Geschichtsbücher lesen, die sich mit großen Zeitspannen befassen. Und andererseits möchte ich Menschen erreichen, die die westliche Identität hinterfragen und über die Situation des heutigen Westens, der sich in einer Identitätskrise befindet, nachdenken möchten. Ich hoffe, dass mein Buch meine Leser*innen anspricht und sie zum Umdenken anregt.
Rudolphina: Haben Sie eine Buchempfehlung für Leser*innen, denen Der Westen gefallen hat?
Naoíse Mac Sweeney: Licht aus dem Osten von Peter Frankopan ist meiner Meinung nach ein wichtiges Buch, das dazu passt. Dieses Buch betrachtet eine große Zeitspanne von der Antike bis fast zur Gegenwart. Es behandelt die Verbindungen zwischen Europa und Asien entlang der Seidenstraße und weshalb die eurasische Interaktion so erfolgreich war. Es zeigt, dass unsere Auffassungen vom Westen und vom Osten nie vollständig voneinander getrennt waren. Ich denke, dass es eine sehr gute Begleitlektüre zu meinem Buch ist, weil Frankopan die Realität der menschlichen Vernetzung im Laufe der Zeit erläutert. Ich wiederum versuche zu erklären, weshalb es – trotz dieser Realität – imaginäre Barrieren gibt. Mein Buch baut also gewissermaßen auf dem von Frankopan auf.
Rudolphina: Welches Buch können Sie noch empfehlen, um sich weiter im Thema zu vertiefen?
Naoíse Mac Sweeney: Ich empfehle Archaeology, Nation and Race von Raphael Greenberg und Yannis Hamilakis. Dieses Buch ist erst kürzlich erschienen. Im Mittelpunkt steht die Art und Weise, wie die antike Vergangenheit in modernen historischen Narrativen und für moderne politische Zwecke genutzt und manipuliert wurde. Es beschäftigt sich auch ganz spezifisch mit Archäologie und archäologischen Praktiken. Daher kann ich mich sehr mit dem Thema des Buches identifizieren. Es gehört zu einer Reihe von Büchern von Archäolog*innen, denen die politischen Implikationen unserer Arbeit immer stärker bewusst werden. Wir sitzen nicht nur in den Elfenbeintürmen unserer Universitäten, vertiefen uns in Ausgrabungen und betreiben einfach nur reine Wissenschaft. Unsere Publikationen haben tatsächlich gesellschaftliche Implikationen. Das wird uns als wissenschaftliche Disziplin immer stärker bewusst. Das Buch regt an und provoziert. Ich stimme nicht mit allen Aussagen der Autoren überein, aber ich finde, wir brauchen provokante Bücher, die uns dazu anregen, anders zu denken oder unsere vielleicht bequemen Ansichten zu hinterfragen.
Die ganze Idee der antiken griechischen Welt als Vorläufer des modernen Westens ist eine zutiefst politische.Naoíse Mac Sweeney
Rudolphina: Welche Lektüre liegt gerade auf Ihrem Nachtkästchen?
Naoíse Mac Sweeney: Etwas ganz anderes. Ich möchte mein Deutsch verbessern und mehr über Österreich, seine Kultur und Traditionen erfahren. Deswegen lese ich gerade Mord auf der Donau von Beate Maly, ein historischer Kriminalroman. Das Buch ist ein bisschen albern, aber manchmal lese ich ganz gerne skurrile Krimis. Und ich finde die Protagonistin, eine pensionierte Lateinlehrerin, großartig.
Rudolphina: Das passt ja perfekt!
Naoíse Mac Sweeney: Sie heißt Ernestine Kirsch und löst Kriminalfälle in Malys Büchern. Wer weiß, vielleicht mache ich das auch, wenn ich pensioniert bin.
Über das Buch
Der Westen - Die neue Geschichte einer alten Idee
Von Naoíse Mac Sweeney
Aus dem Englischen von Jens Hagestedt und Norbert Juraschitz
Propyläen Verlag, 528 S.
Erstauflage in deutscher Sprache 2023
Washington, Library of Congress. Mehr als ein Dutzend ehrwürdige Männer schauen von oben auf Naoíse Mac Sweeney herab – Moses, Homer und Herodot, Kolumbus, Michelangelo und Beethoven … Zusammen sechzehn Bronzebüsten, die die Entstehung der „westlichen Zivilisation" repräsentieren sollen. Doch wo in dieser Erzählung, denkt sich die Historikerin und Archäologin, findet sie als Frau mit Einwanderungsgeschichte ihren Platz? Deshalb fasst Mac Sweeney den Entschluss, eine andere Geschichte des Westens zu schreiben. Ihre faszinierende Erzählung zeigt, dass das Konzept des "Westens" erfunden wurde zur Rechtfertigung von Ausgrenzung und Rassismus – und bis heute genau dazu dient. (Pressetext des Verlags).
Sie leitet das vom ERC finanzierte Projekt MIMAG: Migration and the Making of the Ancient Greek World. Bevor sie 2020 an die Universität Wien kam, war sie Dozentin an der University of Leicester und promovierte an der University of Cambridge. Ihr Buch, Troy: Myth, City, Icon wurde in die engere Auswahl für einen PROSE-Preis der Association of American Publishers aufgenommen. "The West" war das BBC Radio 4 Book of the Week im Vereinigten Königreich.