"Für Wladimir Putin zählt das Ergebnis, nicht die Zahl der Opfer"
Rudolphina: Die "Wahl" Putins bei den Präsidentschaftswahlen am 17. März 2024 scheint unbestritten. Hat die Konkurrenz überhaupt eine Art von Chance?
Wolfgang Mueller: Nein, aber das ist auch nicht beabsichtigt. Die neben dem Amtsinhaber zugelassenen Kandidaten sollen eine Wahlmöglichkeit lediglich suggerieren. Würden sie auch nur annähernd eine Konkurrenz darstellen oder Gegenpositionen zur Politik des Kremls vertreten, wären sie nicht zugelassen worden. Wahlbeobachter beklagen ferner die Aushöhlung des Wahlgeheimnisses und Druck auf die Wähler*innen und befürchten Wahlfälschungen, um die zwar sicher erscheinende Wahl Wladimir Putins noch eindrucksvoller zu machen.
Rudolphina: Der Kreml-Kritiker Alexej Nawalny ist nach Angaben der russischen Justiz am 16. Februar in einem sibirischen Straflager gestorben. Profitiert Putin kurz vor der russischen Präsidentschaftswahl von Nawalnys Tod?
Wolfgang Mueller:
Es wurde erwartet, dass der Tod Alexej Nawalnys dessen Anhängerschaft demoralisieren würde. Hinzu kamen massive Überwachungs- und Einschüchterungsmaßnahmen der Behörden. Laut dem Menschenrechtsportal OWD-Info wurden bis 8. März im Zusammenhang mit Nawalnys Begräbnis 108 Menschen in 22 Städten Russlands verhaftet. Trotzdem kamen tausende zum Grab, das von einem wahren Blumenberg überschüttet ist. Der Amtsinhaber mag davon profitieren, dass für ihn das Kapitel Nawalny abgeschlossen ist. Eine Demoralisierung von dessen Anhängerschaft ist aber derzeit nicht erkennbar.
Gleichzeitig dürfen wir nicht übersehen, dass auch andere Oppositionelle wie Ilja Jaschin, Wladimir Kara-Mursa, Menschenrechtsvertreter wie der Leiter der angesehenen und Nobelpreis-gekrönten Organisation Memorial Oleg Orlow und der linke Soziologe und Kriegsgegner Boris Kagarlitzky sich vor Gericht, in Haft bzw. Straflagern befinden. Zuletzt gab es auch einen Anschlag auf den Nawalny-Mitarbeiter Leonid Wolkow.
Der Amtsinhaber mag davon profitieren, dass für ihn das Kapitel Nawalny abgeschlossen ist. Eine Demoralisierung von dessen Anhängerschaft ist aber derzeit nicht erkennbar.Wolfgang Mueller
Veranstaltungstipp: Russlands Krieg gegen die Ukraine
Am Montag, 8. April, findet um 16 Uhr im Festsaal des Wiener Rathaus das Symposium "Russlands Krieg gegen die Ukraine" statt. Um Anmeldung wird bis 3. April gebeten.
Nach der offiziellen Eröffnung hält die Publizistin und Ukraine-Expertin Oksana Stavrou ein Impulsstatement, im Anschluss diskutieren Emil Brix, Direktor der Diplomatischen Akademie Wien, Wolfgang Mueller, Professor für Russische Geschichte, Universität Wien, und Tanja Maljartschuk, Bachmann-Preisträgerin 2018, unter der Moderation von Alfred F. Praus, Präsident, Gründer der Ukrainian-Austrian Association (UAA).
Rudolphina: Vor rund zwei Jahren hat Russland die Ukraine angegriffen und es herrscht Krieg. Wie ist die Stimmungslage dazu in Russland und wie "verkauft" Putin seinen Angriffskrieg, der wohl weniger erfolgreich verläuft, als er es sich dachte, im eigenen Land?
Wolfgang Mueller: Für Wladimir Putin zählt das Ergebnis, nicht die Zahl der Opfer. Solange die russische Wirtschaft nicht massiver einbricht und auch keine Mobilmachung erforderlich ist, scheint die Mehrheit der russischen Bevölkerung stillzuhalten. Selbst wenn die etwa 80 Prozent Zustimmung zum Präsidenten und zum Kurs des Landes vermutlich nicht der realen Überzeugung der Menschen entsprechen, wird Dissens aufgrund der genannten repressiven Maßnahmen nur von wenigen artikuliert. Das vom Kreml ausgegebene Motto, wonach Russland gegen den "kollektiven Westen" kämpft, soll den Menschen die Dauer des Krieges erklären und einen Schulterschluss gegen den Westen herstellen. Die enorme Kriegshetze in russischen Medien, das Schüren von Hass gegen den Westen und die genozidale Rhetorik gegen die Ukraine sollen dazu beitragen.
Rudolphina: Das Interview des ehemaligen Fox-News-Moderator Tucker Carlson mit Wladimir Putin steht heftig in der Kritik. Warum hat Putin gerade jetzt solch einem Interview zugestimmt? Wie ordnen Sie das Gespräch politisch ein?
Wolfgang Mueller: Zweck des Interviews war es für Wladimir Putin, seine Ansichten und seine Darstellung im Westen ein weiteres Mal zu verbreiten. In zentralen Fragen hat er keine neuen Positionen gezeigt. Bemerkenswert war neben anderen Halb- und Unwahrheiten etwa die Aussage, dass Polen 1939 Hitler "gezwungen" habe, Polen anzugreifen. Eine ähnliche Täter-Opfer-Umkehr findet in der russischen Propaganda mit Blick auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine statt. Das Ziel des Gespräches war, den Westen zu spalten und die Solidarität mit der Ukraine zu untergraben. Der Zeitpunkt ist im Zusammenhang mit der Blockade von Verteidigungshilfen für die Ukraine durch Teile der US-Republikaner und mit dem beginnenden Wahlkampf in den USA zu sehen.
Der Kreml spricht längst von einem Krieg gegen den Westen. Das sind Europa und Nordamerika.Wolfgang Mueller
Rudolphina: Putin setzte Estlands Ministerpräsidentin Kallas kürzlich auf die russische Fahndungsliste. Sind die Baltischen Staaten Ihrer Einschätzung nach nun auch durch einen Angriff Russlands gefährdet?
Wolfgang Mueller: Nicht nur Ministerpräsidentin Kallas steht auf der Liste, sondern auch 13 Österreicher. Das sollte jenen hierzulande zu denken geben, die meinen, dass unser Land nicht betroffen sei. Die baltischen Nachbarstaaten Russlands haben aus der Bedrohung die Konsequenz gezogen, die Abwehr des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine tatkräftig zu unterstützen. Sie wenden dafür bilateral und multilateral 1,7 bis 4,1 Prozent ihres BIP auf und belegen damit den 1., 3. und 5. Rang, dazwischen rangieren Norwegen und Dänemark. Österreich wendet nur 0,8 Prozent seines BIP für Unterstützung der Ukraine auf. Sicherlich ist das Baltikum besonders gefährdet. Bereits 2007 war Estland Opfer einer massiven mehrwöchigen Cyberattacke, als deren Urheber sich die Kreml-Jugendorganisation bekannte. Kriege finden nicht immer gleich konventionell, mit Panzern und Raketen, statt.
Bereits 2007 war Estland Opfer einer massiven mehrwöchigen Cyberattacke, als deren Urheber sich die Kreml-Jugendorganisation bekannte. Kriege finden nicht immer gleich konventionell, mit Panzern und Raketen, statt.Wolfgang Mueller
Rudolphina: Und weitergedacht, hat Putin auch Europa im Visier?
Wolfgang Mueller: Der Kreml spricht längst von einem Krieg gegen den Westen. Das sind Europa und Nordamerika. Seit Jahren mehren sich Hackerangriffe wie etwa auf den deutschen Bundestag, die SPD-Zentrale, die gezielte Beeinflussung der öffentlichen Meinung durch Propaganda, Trolle in Online-Foren und Fake Accounts in sozialen Netzwerken sowie Cyberangriffe auf die kritische Infrastruktur. Der "Spiegel" hat dazu mehrere Berichte veröffentlicht. Im Jänner 2024 haben deutsche Behörden eine prorussische Desinformationskampagne mit etwa 50.000 gefälschten Nutzerkonten aufgedeckt. Dazu kommt künstlich herbeigeführte Migration an den Grenzen von Russland zu Finnland und von Belarus zu Polen. Zuletzt sind die regelmäßigen russischen Drohungen mit der Eroberung oder nuklearen Bombardierung europäischer Städte wie London, Prag, Berlin, Warschau in Rechnung zu stellen.
Rudolphina: Russland ist mit einer Fläche von 17,2 Millionen Quadratkilometern das größte Land der Erde. Abschließend salopp gefragt: Warum kriegt Putin nicht genug?
Wolfgang Mueller:
Die Frage ist berechtigt. Die Vergrößerung des Territoriums erscheint mir aber nicht als realer Kriegsgrund. Plausibler sind andere Erklärungsmodelle. So ist Russland sehr dünn besiedelt und seine Bevölkerung schrumpft; Einwanderung aus außereuropäischen Staaten ist unerwünscht. Daher könnte Russland interessiert sein, auf diesem Weg seine Bevölkerung zu vergrößern. Ferner genannt werden sicherheitspolitische Argumente, etwa die Verhinderung eines NATO-Beitritts der Ukraine. Dazu muss man aber bedenken, dass Russland von der Ukraine und selbst von der NATO nicht bedroht wurde und ein ukrainischer Beitritt nicht auf der Agenda stand.
Am plausibelsten erscheint mir daher das innenpolitische Erklärungsmodell: Die Ukraine hat sich in der Orangenen Revolution und im Euromaidan gegen autoritäre korrupte Machthaber und Wahlfälschung und für eine EU-Perspektive erhoben und seither in Richtung Demokratie und Westen entwickelt. Für Präsident Putin ist dies unerwünscht, er möchte seine Macht bewahren. Daher zielt die Aggression seit 2014 und insbesondere der Krieg ab 2022 darauf ab, die westlich-demokratische Entwicklung in der Ukraine zu zerstören, um der Bevölkerung in Russland zu signalisieren, dass dieser Weg für sie nicht möglich sei.