Realfiktion Klimarechnungshof
Der Jänner 2024 war der wärmste seit Beginn der Messungen, noch nie waren die globalen Temperaturen in diesem Monat derart hoch. Das gab der Klimawandeldienst Copernicus der Europäischen Union kürzlich bekannt, wie auch einen besorgniserregenden Anstieg der Erderwärmung in den letzten zwölf Monaten von über 1,5 Grad.
"Der Hut brennt" sind sich viele Forscher*innen, NGOs und Bürger*innen einig. Sie alle fordern ein Handeln der Politik, international und national. So auch die Wissenschafter*innen und Akteur*innen des FWF-Projekts "Realfiktion Klimarechnungshof": Sie spielten anhand realer Fakten – CO2-Ausstoss, Bodenversiegelung, erneuerbare Energien etc. – die Einrichtung eines österreichischen Klimarechnungshofs nach Vorbild des bestehenden Rechnungshofs durch.
Testlauf für zukünftigen Klimarechnungshof
In Workshops und Performances, die in fünf Akten als realfiktive Kampagne "Klimarechnungshof jetzt!" entwickelt und gefilmt wurden, hat das Forschungsprojekt die Produktion von Klimawandelwissen mit realen Expert*innen untersucht. Die letzten beiden Akte wurden im Juni 2023 erarbeitet. Sie haben ein zuvor erarbeitetes Prüfverfahren zum Gegenstand, in dem sich eine Kommission mit vier konkreten Prüfgegenständen auseinandersetzte: der Effektivität von Genehmigungsverfahren für Windkraftanlagen, den Umweltkosten und Klimabilanz des Baus des Westringtunnels in Linz (A 26), den Folgen für das Ausbleiben eines neuen Klimaschutzgesetzes sowie die klimabezogene Wirksamkeit von Agrarsubventionen. In diesem Testlauf für den zukünftigen Klimarechnungshof wurde besprochen, ob die Fälle den Kriterien für Klimaschutz entsprechen und wie sie zur Klimabilanz beitragen. Die Ergebnisse der Prüfungen und die daraus abgeleitete Forderungen und Empfehlungen an die Politik hat das Projektteam der Öffentlichkeit in einer Pressekonferenz vorgestellt.
Was soll ein Klimarechnungshof können? Wer berechnet ein nationales CO2-Budget und wie? Diese Fragen und mehr stellt das Projektteam – bestehend aus Alexa Färber (Leitung) und Milena Bister, beide vom Institut für Europäische Ethnologie, und dem Wissenschaftskurator Alexander Martos – im Rahmen der Realfiktion Klimarechnungshof. Über ihre Idee, Visionen und Erwartungen erzählen die Köpfe hinter dem Projekt im Interview.
Rudolphina: Wie passen der Klimarechnungshof und das Institut für Europäische Ethnologie bzw. das Volkskundemuseum, in dem die verschiedenen Akte der Realfiktion aufgeführt werden, zusammen?
Alexa Färber: Die Europäische Ethnologie ist eine Alltagskulturwissenschaft, d.h. wir analysieren u.a. wie Wissen verhandelt wird, wie es entsteht, sich verändert und in welchen Formaten Wissen auftritt. Wir interessieren uns für den Klimarechnungshof und das Klimabudget, um politische Fragen im Klimawandel voranzubringen. Das Interessante ist – deswegen ist unser Projekt auch wirklich ein neuartiges Projekt für die Europäische Ethnologie –, dass wir hier vorausschauen, vorausgreifen.
Milena Bister: Aus wissensanthropologischer Sicht ist für uns interessant, dass der Vorschlag für eine neue Institution aus der Zivilgesellschaft kommt, die erstens die Wirksamkeit von Klimaschutzmaßnahmen kontrollieren und zweitens mit einem nationalen CO2-Budget arbeiten soll. Wir haben den Ansatz der Realfiktion gewählt, also einen theatralen, künstlerischen Ansatz, um verschiedene Aufgaben eines Klimarechnungshofs zu inszenieren. Gemeinsam mit Akteur*innen bzw. Klimaexpert*innen wollen wir nachvollziehen, was es alles braucht, um einen Klimarechnungshof zu etablieren. Gleichzeitig wollen wir die Imagination rund um eine neue demokratische Institution und neuer Kontrollpraktiken fördern.
Rudolphina: Herr Martos, Sie sind Wissenschaftskurator und arbeiten eng mit dem Volkskundemuseum zusammen. Was fasziniert Sie an diesem Projekt?
Alexander Martos: Das Volkskundemuseum ist ja quasi ein natürlicher Partner des Instituts für Europäische Ethnologie. Das Museum als ein Vis-á-vis der Universität, das Publikum einbezieht. In diesem Projekt kommt die Wissenschaftskommunikation mit Theater und Museum zusammen, weil es um performative Settings geht. Wie lässt sich spekulieren was gar nicht so theatral, sondern bürokratisch im weitesten Sinne ist? Das ist das Spannende an diesem Projekt.
Forschungsverbund Umwelt und Klima
Alexa Färber ist Mitglied des Forschungsverbunds Umwelt und Klima der Universität Wien (ECH), ein Netzwerk von Forscher*innen aus allen Disziplinen, die sich mit den Themen Umwelt, Klima und Nachhaltigkeit beschäftigen. Mehr Infos zum Forschungsverbund
Rudolphina: Wie setzen Sie die Realfiktion konkret um?
Milena Bister: Workshops schaffen die Wissensgrundlage für die Aufführungen. So wurden klimarelevante Bereiche ausgewählt, die der Klimarechnungshof als erstes unter die Lupe nehmen soll: Mobilität, Verkehr, Ernährung, Landwirtschaft und Erneuerbare Energien. Unser Ziel ist es nicht, am Ende des Projekts einen Vorschlag für eine Institution zu haben, die umgesetzt werden kann. Wir möchten vielmehr aufzeigen, welche Fragen damit verbunden sind. Unser Projekt soll Debatten öffentlich machen, die gesellschaftlich geführt werden müssen, um Möglichkeiten zu finden, demokratische Lösungen zu entwickeln.
Alexander Martos: Ausgehend von der von uns entwickelten Kampagne "Klimarechnungshof jetzt! Klimaschutz braucht Kontrolle" ergibt sich eine Dramaturgie aus fünf Episoden, aus denen dann auch fünf Episodenfilme entstehen werden. Begonnen haben wir mit dem Schreiben eines Aufrufs, gefolgt von einer ersten Versammlung von Expert*innen, im dritten Akt geht es darum Prüffälle für einen Klimarechnungshof vorzuschlagen. Im vierten Akt werden drei Fälle geprüft und anschließend im letzten Akt bei einer Pressekonferenz im Juni 2023 vorgestellt. Jeder dieser Akte besteht aus verschiedenen Szenen, die von den Expert*innen bespielt werden, die das darstellen, was sie selber sind, verbunden mit einer bestimmten Aufgabenstellung. Gleichzeitig geht es natürlich darum, die Realfiktion für die Forschungsgruppe beobachtbar zu machen.
Es geht ums Überleben!Alexa Färber im Aufruf zur Versammlung
Rudolphina: Salopp formuliert, bieten Sie mit dem Volkskundemuseum die Bühne, das Setting, die Dramaturgie und schauen was passiert?
Alexa Färber: Das Volkskundemuseum ist tatsächlich ein Ort, der für vorausgreifendes Denken offen ist und deshalb für unsere Realfiktion sogenannte unwahrscheinliche Zusammenkünfte ermöglicht. Wir können schon jetzt in den Workshops und in den Akten sehen, dass es zu diesen unwahrscheinlichen Zusammenkünften kommt, d.h. Menschen mit ihrer Expertise aufeinandertreffen, die sich normalerweise nicht treffen würden – oder nur wenig Zeit zum Austausch haben. Und das zu beobachten und ethnografisch zu begleiten, ist dann sozusagen die Kür, die wir als Europäische Ethnolog*innen machen.
Milena Bister: Wenn Menschen aus verschiedenen Disziplinen wie der sozialen Ökologie, Rechtswissenschaft hin zur Verkehrswissenschaft und Sozial- und Kulturwissenschaft, aber auch Aktivist*innen zusammenkommen, dann ist es an sich schon besonders, dass sie sich überhaupt treffen. Aber das Spezielle ist, dass sie eine Institution und spezifische Fragen an die Institution im Rahmen der Realfiktion austesten können und dadurch neue Wissensfragen generieren.
Realfiktion Klimarechnungshof
Das FWF-Projekt nimmt sich der Frage an, wie Kulturwissenschafter*innen zeitgenössische Wissenspraktiken im Zusammenhang mit dem Klimawandel erfassen und mitgestalten können. Das Projekt problematisiert die Möglichkeiten, Klimawandelwissen durch eine vorausgreifende, spekulative Wissensanthropologie zu verstehen. Hierfür entwickelt, veranstaltet und analysiert das Team in einem kollaborativen Experiment die Vorab-Inszenierung (Pre-Enactment) eines real-fiktiven Klimarechnungshofs in Österreich, dessen Einrichtung von dem jüngst erfolgreichen österreichischen Klimavolksbegehren gefordert wurde.
Es braucht einen Diskurs, in welche Richtung wir als Gesellschaft gehen wollen.Milena Bister
Rudolphina: Wo sehen Sie das Forschungsziel des Projekts "Realfiktion Klimarechnungshof"?
Milena Bister: Das Forschungsziel ist für mich, die Möglichkeiten, die es gäbe, den Klimarechungshof zu realisieren, zu veröffentlichen. Es braucht einen Diskurs, in welche Richtung wir als Gesellschaft in Klimafragen gehen wollen und wir können hier verschiedene Ansatzpunkte für eine derartige öffentliche Debatte – wissenschaftlich fundiert – liefern.
Alexa Färber: Mit der Realfiktion haben wir ein Feld gefunden, das dynamisch und gesellschaftlich höchst relevant ist. Wir könnten mit diesem interessanten und bislang wenig erprobten Format „Realfiktion“ das Steinchen sein, das etwas bewegt.
Der Klimawandel ist die Folge eines Marktversagens.Alexander Martos
Rudolphina: Unsere aktuelle Semesterfrage "Sind wir noch zu retten?" beschäftigt sich mit der Gesundheit des Planeten. Wie schätzen Sie diese ein?
Alexander Martos: Der Klimawandel ist die Folge eines Marktversagens. Es ist das Resultat einer ganz bestimmten Wirtschaftsweise und hat mit Industrialisierung und Profit zu tun. Wenn Polanyi vor hundert Jahren die Wiedereinbettung der Ökonomie in die Gesellschaft gefordert hat, dann wäre die planetare Vision so etwas wie die Wiedereinbettung der Ökonomie in die Ökologie – als eine positive Vision: Welche Wirtschaftsweise und welche Konsumverhalten lässt sich mit einer planetaren Dimension in Einklang bringen?
Rudolphina: Herzlichen Dank für das Interview!