Hass im Netz: Eine Bedrohung für die Demokratie
Hass im Netz kann in unterschiedlichen Formen auftreten: als gezieltes Mobbing, als geschmackloser Witz, als emotionale Affekthandlung, die später vielleicht sogar bereut wird. Wie man Hassbotschaften einordnen kann, wie man mit ihnen umgeht und was sie für unsere demokratische Gesellschaft bedeuten, erforscht der Kommunikationswissenschafter Jörg Matthes, Leiter der Advertising and Media Psychology Research Group an der Universität Wien, nun in einem umfangreichen Projekt. Dabei stehen die Perspektiven von drei Gruppen im Fokus: der Täter*innen, der Beobachter*innen und jene der Betroffenen.
Um mehr über ihre Motive herauszufinden, treten die Wissenschafter*innen dabei an die Verfasser*innen von Hasspostings heran. Ein Algorithmus identifiziert Hasspostings auf sozialen Plattformen oder in den Kommentarbereichen von Tageszeitungen. Danach werden diese User*innen vom Forschungsteam zu (anonymen) qualitativen Einzelinterviews eingeladen.
Zusammenwirken von Unterdrückungsmechanismen
Bei den qualitativen Interviews mit der zweiten Gruppe – von Online-Hass betroffenen Personen – achten die Forscher*innen besonders auch auf das Zusammenwirken verschiedener Unterdrückungsmechanismen: "Es gibt sogenannte 'disempowered groups' in der Gesellschaft, also Menschen, die strukturell schlechter gestellt sind, etwa Frauen oder Muslime. Im Gegensatz zu 'empowered groups' – zum Beispiel Politiker*innen oder Wissenschafter*innen, die etwa aufgrund ihrer Bildung, ihres Berufs oder ihrer finanziellen Situation strukturell besser gestellt sind", erklärt Jörg Matthes: "Uns interessiert, wie diese Kategorien 'empowered' und 'disempowered' miteinander interagieren. Wie unterscheidet sich etwa das Erleben einer muslimischen Frau vom Erleben eines nicht-muslimischen Mannes? Jenes einer muslimischen Politiker*in von dem eines nicht-muslimischen Bauarbeiters?"
Denn verschiedene Diskriminierungskategorien treten nicht unabhängig voneinander auf, sondern führen zu eigenständigen Diskriminierungserfahrungen: "Und diese Erfahrungen wollen wir in Bezug auf digitalen Hass besser verstehen", so der Projektleiter.
Noch Unhöflichkeit oder schon Intoleranz?
Dabei unterscheidet Matthes zwei verschiedene Formen von Hassbotschaften: Beleidigungen und Intoleranzen. "Wir gehen davon aus, dass Personen, die zur 'empowered group' gehören, eher Beleidigungen abbekommen, also personenbezogene Botschaften wie beispielsweise Schimpfwörter. Umgekehrt nehmen wir an, dass Menschen, die Teil einer 'disempowered group' sind, sowohl Beleidigungen als auch 'Intoleranzen' abbekommen – also Hassbotschaften, die gegen eine gesamte Gruppe gerichtet sind und diese herabwürdigen wollen."
Hier kommen nun die Beobachter*innen ins Spiel, deren Perspektiven in Experimenten beleuchtet werden: Verschiedenen Testpersonen wird die gleiche Hassbotschaft vorgelegt – in der jedoch unterschiedliche Menschen angegriffen werden: einmal der Politiker, einmal die Muslima, einmal die Journalistin. "Die Frage, die wir untersuchen wollen ist: Unter welchen Bedingungen greifen die Testpersonen ein? Intervenieren sie, wenn die Betroffenen ihnen ähnlich sind, etwa betreffend ihre Religion oder ihres Geschlechts? Oder wenn die Betroffenen zu einer "empowered group" gehören? Wann handelt ein Mensch und wann nicht?".
ERC Grants
Die Förderung von grundlagenorientierter Pionierforschung ist einer der Schwerpunkte der Europäischen Union. Dafür wurde der Europäische Forschungsrat (European Research Council, ERC) geschaffen. Gefördert werden Forschungsprojekte mit hohem Potenzial für Innovationen. Seit 2007 wurden insgesamt bereits 116 ERC Grants an Forscher*innen der Universität Wien vergeben. ERC Grants der Universität Wien im Überblick
Was ist Hass?
"Wahrnehmungen von Hass unterscheiden sich stark. Wenn sie mit ihren hasserfüllten Aussagen konfrontiert werden, spielen Täter*innen ihre Aussagen sowohl vor sich selbst als auch vor anderen gerne als harmlos herunter – genau wie Beobachter*innen, die dann oft sagen: 'Ist ja nicht so schlimm'", so Matthes.
Betroffene hingegen haben eine ganz andere Antenne für Botschaften, die gegen sie gerichtet sind – sie nehmen die Welt anders wahr: Hass besteht ja oft aus Zweideutigkeiten, aus Zwischenbemerkungen, aus der Verwendung bestimmter Begriffe. Es ist für Außenstehende oft schwer nachvollziehbar, wie sich das für die Betroffenen anfühlt. Die Frage: "Was ist Hass?", ist also nicht so leicht beantwortbar, denn Hass wird unterschiedlich wahrgenommen. Auch dieser spannenden Frage will sich das Projektteam annähern.
Die Täter*innen, Beobachter*innen und Betroffenen, die im Zentrum des Projekts stehen, kommen übrigens nicht nur aus Österreich: Auch Proband*innen aus Deutschland, Frankreich und Ungarn sind dabei. "Dieser länderübergreifende Zugang ist besonders interessant, da die öffentlichen Debatten, die Wahrnehmungen und die Gesetze sich maßgeblich unterscheiden. Während es in Deutschland zum Beispiel Regulationen gegen Hasspostings gibt, existieren in Ungarn so gut wie keine Gesetze, die digitalen Hass einzugrenzen versuchen."
Aber auch die Sprache macht einen Unterschied: "Hass ist ein sprachgebundenes Phänomen, manche Wörter und Bedeutungen gibt es so nur in einer Sprache. Um diese Feinheiten besser erforschen zu können, ist die Zusammenarbeit mit Übersetzer*innen besonders wichtig", berichtet Matthes.
Die Demokratie wird durch digitalen Hass bedroht
Der Dialog zwischen verschiedenen Positionen, mit dem Ziel, gemeinsame Lösungen zu finden, ist in einer Demokratie fundamental. "Es ist eine Grundbedingung der Demokratie, die Argumente der anderen Seite anzuhören, egal ob man zustimmt oder nicht. Zudem muss es möglich sein, Kritik an anderen Positionen in einer sachlichen Art und Weise zu äußern, ansonsten bricht der Diskurs ab", ist Jörg Matthes überzeugt. Seiner Einschätzung nach befinden wir uns derzeit in einem "Dauerkrisenmodus" – vor allem vor dem Hintergrund von Klimawandel, Flüchtlingsthematik, COVID-19 und Ukrainekrieg. Durch diese dauernde Anspannung bestehe laut Matthes die Gefahr, dass der zivile Diskurs abhandenkomme und der hassvolle Diskurs überhand nähme.
Für den Kommunikationsexperten Jörg Matthes ist das besonders bedenklich: "Das Problem ist: Hass sorgt für mehr Hass – es entstehen mit der Zeit sogenannte Polarisierungsschleifen, wodurch Hass eskaliert." Auf diese Weise könne sich digitaler Hass auch auf Gewalt in der "echten" Welt auswirken – man denke etwa an den Sturm auf das Kapitol. Matthes betont, dass es daher besonders wichtig sei, den zivilen Diskurs aufrecht zu erhalten: "Die Demokratie hat immer Austausch von Meinungen zum Ziel, dieser muss möglich sein – auch über soziale Medien."
- Website von Jörg Matthes
- Mehr über das Projekt DIGIHATE
- Advertising and Media Psychology Research Group
- Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft
- Öffentliche Ringvorlesung "Demokratie und Digitale Revolution" der Universität Wien in Kooperation mit der Stadt Wien
- Virtuelle Ringvorlesung "Practicing Democracy in the Digital Age" der Forschungsplattform "Governance of Digital Practices" versität Wien in Kooperation mit der Stadt Wien
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