Freier Wille

Haben wir die Wahl beim Wollen?

3. Juni 2022 von Almud Krejza
Anne Sophie Meincke sagt: ja. Warum sie auf die Biologie zurückgreift, um das zu beweisen, und weshalb es wichtig ist, den freien Willen auch zu trainieren, erzählt die Philosophin im Rudolphina-Interview.
Gewohnheiten können dem Willen im Weg stehen, weil wir ohne nachzudenken handeln. Ein größeres Reflexionsvermögen führe zu einem freieren Willen, und das könne man üben, sagt die Philosophin Anne Sophie Meincke. Sie erforscht an der Uni Wien u.a. die biologischen Grundlagen des freien Willens. © iStock

Rudolphina: Frau Meincke, wir stellen dieses Semester die Frage, was menschliches Verhalten bestimmt. Sie forschen als Philosophin über den freien Willen und diskutieren dazu auch bei unserer abschließenden Podiumsdiskussion am 13. Juni. Was verstehen Sie unter "freiem Willen"?

Anne Sophie Meincke: Wenn ich Schokolade sehe, möchte ich sie haben. Mein Wille ist es also, die Schokolade zu essen. Aber kann ich die Schokolade auch nicht wollen? Ein "freier Wille" ist es dann, wenn ich selbst über das "Wollen" bestimme.

Rudolphina: Sie stimmen also nicht mit Schopenhauer überein, der sagte: "Ein Mensch kann tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will"?   

Meincke: Genau. Schopenhauer war Fatalist und glaubte nicht an den freien Willen. Ähnlich gehen die Vertreter*innen des sogenannten "universalen Determinismus" davon aus, dass schon von Anbeginn der Welt feststand, was wir in jedem bestimmten Moment wollen. Es gibt auch Theoretiker*innen, die annehmen, dass freier Wille bereits dann gegeben sei, wenn wir handeln können, wie wir wollen, die uns also "Handlungsfreiheit" als "Willensfreiheit" verkaufen wollen. Ich hingegen sage: Willensfreiheit impliziert tatsächlich dieses "Anders-Wollen-Können". Zuerst will ich die Schokolade, aber dann überlege ich: Ach nein, vermutlich kriege ich Bauchweh, wenn ich jetzt Schokolade esse. 

Wenn wir nie nachdenken und immer nur impulsiv unseren Neigungen folgen, dann sind wir minimal frei in unserem Willen.
Anne Sophie Meincke

Rudolphina: Und dennoch essen wir die Schokolade in vielen Fällen trotzdem. Ich weiß dass ich vieles von dem, was ich kaufe, eigentlich nicht brauche, dass jede Flugreise die Klimakrise verschärft. Ich würde diese Dinge liebend gerne nicht wollen – dennoch fällt es schwer, es bleiben zu lassen. Habe ich keinen freien Willen?  

Meincke: Wie frei unser Wille ist, hat vor allem damit zu tun, wie reflektiert wir sind. Wenn wir nie nachdenken und immer nur impulsiv unseren Neigungen folgen, dann sind wir minimal frei in unserem Willen. Dass wir hier eine Wahl haben, müssen wir aber auch erst einmal lernen. In Diktaturen werden Menschen tatsächlich darauf eingeschworen, nur eine Möglichkeit zu sehen und keine andere. Die Philosophie bzw. Bildung im Allgemeinen ist der gegenteilige Prozess, der aufzeigt, dass es mehrere Möglichkeiten gibt, für die man sich entscheiden kann.
 

Rudolphina: Das ist ein sehr interessanter Punkt. In meinem Fall halte ich die politischen Bedingungen aber nicht für den Grund dieser kognitiven Dissonanz, dieses Widerspruchs zwischen meinem Handeln und meinem Wollen.

Meincke: Das hat natürlich auch mit der generellen Trägheit des Menschen zu tun und der Tatsache, dass es anstrengend ist, sich, wie Kant sagt, des eigenen Verstandes zu bedienen. Es ist viel einfacher, sich seinen Gewohnheiten entsprechend zu verhalten. Um zu handeln, wie wir wollen, müssten wir in dem Beispiel unsere Handlungsfreiheit einschränken – weniger kaufen, nicht mehr fliegen – und dazu ist es auch noch unbequem, weil wir darüber nachdenken müssen, wie wir die Dinge wegen dieser Einschränkungen anders regeln.

Rudolphina: Sie untersuchen diese philosophischen Fragen auch unter Einbeziehung biologischer Erkenntnisse. Warum? Welchen philosophischen Beitrag kann eine biologische Perspektive leisten? 

Meincke: Generell halte ich es für wichtig, dass die Philosophie sich mit wissenschaftlichen Erkenntnissen auseinandersetzt. Selbst eine so abstrakte philosophische Teildisziplin wie die Metaphysik muss wissenschaftlich, also auch empirisch informiert sein. Die Biologie ist nun von besonderer Relevanz für das Verständnis dessen, was es heißt, zu handeln und einen freien Willen zu haben.
Lassen Sie mich dies an einem Beispiel verdeutlichen: Es gibt einen Fisch, der hat einen Reflex: Wenn er an der Seite berührt wird, schwimmt er S-förmig weg, eine Fluchtreaktion. Und es gibt einen Raubfisch, der hat genau das herausgefunden und sich zunutze gemacht: Er löst den Fluchtreflex aus, bringt sich in Position – und dieser arme Fisch schwimmt direkt ins Maul seines Fressfeindes.
Wir sehen hier, dass Reflexe, die aus evolutionärer Sicht einmal sinnvoll waren, auch zum Problem werden können. In einer sich verändernden Umwelt braucht man Flexibilität – man kann nicht für jede Eventualität ein festverdrahtetes Reiz-Reaktions-Schema haben. Das Tier muss also eine Entscheidung treffen. Und im Treffen einer Entscheidung ist der freie Wille sozusagen rudimentär schon enthalten, das kann man nicht trennen: Jedes Handeln, wenn es beabsichtigt ist, enthält schon eine Entscheidung. Ich tue dies und jenes, aber dies und jenes nicht. Meine These lautet, dass Handlungsvermögen und freier Wille tatsächlich biologische Funktionen sind, die dem Überleben dienen. 

Veranstaltungstipp: Diskutieren Sie mit Anne Sophie Meincke ...

... und weiteren Expert*innen von Archäologie bis Verhaltenswissenschaft über die Faktoren und Muster, die unsere täglichen Entscheidungen mitbestimmen und bis tief in die Menschheitsgeschichte reichen: bei der Podiumsdiskussion zur Semesterfrage am Montag, 13. Juni 2022, um 18 Uhr im Großen Festsaal der Universität Wien (Universitätsring 1, 1010 Wien).

Text Seit wann gibt es moderne Menschen und was treibt sie an? in weißer Schrift auf blau-rotem Farbverlauf

Rudolphina: Sie sagen also, dass auch Tiere einen freien Willen haben, ihr Wollen bestimmen können?

Meincke: Der Mensch ist jedenfalls keine Ausnahmeerscheinung, der als einziges Wesen den freien Willen bekommen hat, während alle anderen wie Maschinen funktionieren. Schon ein ganz primitives Tier, beispielsweise eine Amöbe, hat ein Überlebensproblem. Sie muss so handeln, dass sie überlebt. In ihrem Fall bedeutet dies vor allem, Nährstoffe zu finden und Schadstoffe zu meiden. Die Amöbe besitzt entsprechende Rezeptoren und ist in der Lage, ihre Schwimmrichtung den wahrgenommenen Konzentrationsgradienten anzupassen. Insbesondere ihre Fähigkeit zur Korrektur eines eingeschlagenen Kurses, wenn etwa die Konzentration eines Nährstoffs ab- statt zunimmt, deutet darauf hin, dass es sich nicht um ein bloßes Reiz-Reaktions-Schema handelt. Die Amöbe entscheidet sich für eine Möglichkeit und gegen eine andere. Dieses ganz basale Entscheidungsvermögen hat sich dann immer weiter ausdifferenziert, bis hin zum menschlichen Verhalten. 

Semesterfrage: Was bestimmt menschliches Verhalten?

Anne Sophie Meincke: "Natürlich ist unser Verhalten bestimmt von dem, was wir wollen. Aber so ein Wille, der ist doch relativ flexibel. Manchmal wollen wir Dinge, weil andere Leute wollen, dass wir das wollen. Oder wir tun etwas, weil andere wollen, dass wir es tun. Idealerweise reflektieren wir über das, was wir wollen, und können es in einen Kontext setzen. Was wir wollen, ist nicht unbedingt das, was nur aus uns selbst kommt, sondern es hat viel mit unserer Umwelt zu tun und noch mehr mit unserem Reflexionsvermögen."

Lesen Sie mehr zur Semesterfrage "Was bestimmt menschliches Verhalten?"

Rudolphina: Ihr aktuelles Forschungsprojekt trägt den Titel "Biologisches Handlungsvermögen und natürliche Freiheit". Was ist das Ziel? 

Meincke: Zu zeigen, dass die Biologie tatsächlich den Schlüssel zur Lösung des Problems der Willensfreiheit liefert. In der Philosophie wird die Willensfreiheit traditionell nur in Bezug auf den Menschen und in engem Zusammenhang mit der Idee moralischer Verantwortung diskutiert. Im Mittelpunkt der Debatten stand und steht meistens immer noch die Frage, ob und wie menschliche Willensfreiheit und moralische Verantwortung mit dem universalen Determinismus der klassischen Physik zusammenzubringen sind. Darüberhinaus wird inzwischen manchmal auch gefragt, welche Implikationen der Indeterminismus der modernen Quantenphysik für die menschliche Willensfreiheit hat. Auf der einen Seite also das menschliche freie und moralisch verantwortliche Subjekt – auf der anderen Seite Naturgesetze und Quanten.

Rudolphina: Und dazwischen?

Meincke: ... liegt ein bislang ignorierter Bereich und ich plädiere dafür, diesen in den Blick zu nehmen: die Biologie. Insofern ist mein Projekt tatsächlich bahnbrechend, weil es diese biologische Perspektive einbringt. Menschen sind Organismen – und nicht die einzigen. Könnte es sein, dass auch nichtmenschliche Organismen handeln und freie Willensentscheidungen treffen? Was sind eigentlich Organismen? Gehören Handlungsvermögen und Willensfreiheit am Ende zum Wesen des Organismus? Ist also freier Wille – statt eines unerklärlichen Mysteriums – vielmehr ein wissenschaftlich erklärbares Resultat der Evolution? Meines Erachtens sind alle diese Fragen positiv zu beantworten.

Rudolphina: Welche Rolle spielen hier die Gene?

Meincke: Die biologische Forschung ist dabei, die Rolle der Gene von der Evolution bis hin zur Individualentwicklung drastisch neuzubewerten. Evolution vollzieht sich nicht ausschließlich (und vielleicht nicht einmal wesentlich) durch zufällige Genmutationen; und wie ein Organismus sich entwickelt, ist keineswegs "genetisch programmiert" – es gibt also auch kein Gen für einen guten oder schlechten Charakter.

Rudolphina: In den Köpfen vieler Menschen hält sich diese Sichtweise aber hartnäckig ...

Meincke: Es ist Teil meines Projekts, damit ein bisschen aufzuräumen. Die Idee eines genetischen Determinismus ist falsch. Das heißt freilich nicht, dass wir stattdessen nun von unserer Umwelt "determiniert" sind. Wir handeln in einer Situation im Lichte der Informationen, die wir der Umwelt entnehmen können, mit Blick auf ein Ziel, das wir erreichen wollen. Welches Ziel wir erreichen wollen, ist durch die Situation nicht festgelegt – die Entscheidung hierüber obliegt uns. Das ist eben der Grund, weshalb wir den freien Willen, den wir haben, gut behandeln und einüben müssen. 

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Rudolphina: Wir müssen also nur Wollen wollen. Dann bekommen wir das schon hin? 

Meincke: "Nur" ist immer schwierig. Aber "Wollen" ist sicher ein guter Anfang.

Rudolphina: In diesem Fall auch ein schönes Ende. Vielen Dank für das Gespräch!

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Anne Sophie Meincke ist Organisatorin der internationalen Konferenz "Free Will: New Perspectives from Philosophy and Neuroscience", die von 11. bis 12. Juni 2025 in Wien an der Österreichischen Akademie der Wissenschaft stattfinden wird. 

© derknopfdruecker.com
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Anne Sophie Meincke ist Philosophin und arbeitet an der Schnittstelle von Metaphysik, Philosophie der Biologie, Handlungstheorie und Philosophie des Geistes. Sie beschäftigt sich außerdem mit feministischer Philosophie und der Geschichte der Philosophie.

Zu ihren speziellen Forschungsthemen gehören Personalität und personale Identität, biologische Identität und der Begriff des Lebens, Handlungsvermögen und freier Wille, dispositionaler Realismus, Persistenz, Prozessontologie, die Metaphysik der Schwangerschaft und Metametaphysik. Seit 2019 leitet sie das vom FWF geförderte Elise-Richter-Projekt "Bio-Agency and Natural Freedom" an der Universität Wien. Anne Sophie Meincke ist seit 2020 Mitglied der Jungen Akademie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.