Von der Demokratisierung zur elektoralen Autokratie
Seit 2003 regiert Recep Tayyip Erdoğan mit seiner "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung" (Adalet ve Kalkınma Partisi, AKP) die Türkei. Die AKP versprach damals, das Land weiter zu demokratisieren, an die EU heranzuführen und die Menschenrechte auszuweiten. Die Phase zwischen 2002 und 2013 war von einer Aufbruchsstimmung geprägt. Eine dynamische Wirtschaftsentwicklung führte zu beachtlichem Wohlstand breiterer Bevölkerungsschichten. Diese Entwicklung wurde durch den Ausbau sozialer Rechte, die Verbesserung der Gesundheitsversorgung und der urbanen Infrastruktur begleitet. Die AKP setzte nach 2002 politische, juristische und wirtschaftliche Reformen fort, 2005 erhielt die Türkei offiziell den Status eines EU-Beitrittskandidaten. In dieser Phase des Aufbruchs verbesserte sich auch die soziale und wirtschaftliche Lage der kurdischen Bevölkerung; auch gegenüber den Alevit*innen war die AKP zu mehr Zugeständnissen bereit als frühere Regierungen. Die neue Regierungspartei schien die Vereinbarkeit von Islam, Demokratie und Wirtschaftsliberalismus ideal zu verkörpern und konnte daher auch Kreise außerhalb der islamisch-konservativen Bevölkerung im Land, auch international für sich gewinnen.
Erdoğan konnte sich gegenüber den bis dato regierenden säkular-nationalen Eliten aus Politik und Militär durchsetzen, diese großteils entmachten und seine eigene machtpolitische Stellung festigen. Gesellschaftlich sicherte er sich den Rückhalt durch einen nie dagewesenen Wirtschaftsaufschwung. Allerdings war und ist das Land von ungleicher Einkommensverteilung, hoher Jungendarbeitslosigkeit und unsicheren Arbeitsbedingungen geprägt. Dem Ziel Erdoğans, dass die Türkei bis 2023 zu den zehn stärksten Industrienationen gehören soll, folgten keine konsequente Industriepolitik und Investitionen in Forschung und Entwicklung – letztere betragen nur die Hälfte des EU-Durchschnitts.
Erdoğans Gespür für uneingeschränkte Macht
Spätestens mit den Gezi-Protesten 2013 und dem harten Durchgreifen gegen die landesweite Protestwelle zeigte die AKP-Regierung ihre autoritären Züge. Die Beziehung zu Fethullah Gülen und seiner Bewegung, Verbündete im Aufstieg der AKP und Erdoğans, offenbarte bereits 2009/10 erste Risse. Zum offenen Bruch kam es im Winter 2013, als Korruptionsermittlungen durch Staatsanwälte, die Gülen nahestanden, gegen ranghohe AKP-Politiker*innen und sogar Minister*innen eingeleitet wurden. Knapp drei Jahre später am, 15. Juli 2016 erfolgte ein Putschversuch gegen die AKP-Regierung unter Staatspräsident Erdoğan, der 249 Todesopfer forderte. Erdoğan reagierte mit einer breiten Verhaftungswelle, zudem wurden mehrere Tausend Beamt*innen, Offiziere und zahlreiche Akademiker*innen vom Dienst suspendiert. Er ging gegen oppositionelle Journalist*innen, Akademiker*innen vor und entfernte unliebsame Personen aus staatlichen Institutionen. Dabei genügte oft der Verdacht, die PKK oder die Gülen-Bewegung zu unterstützen. Die starke Präsenz des Gülen-Netzwerks in der Justiz, im Bildungsministerium, Polizeiapparat und dem Innenministerium war bekannt, der Putschversuch von 2016 legte schließlich die Infiltrierung der Armee offen. Schnell wurde Fethullah Gülen, der seit 1999 in den USA lebt, als Drahtzieher ausgemacht.
Mit der Einführung des Präsidialsystems und dem Wahlsieg Recep Tayyip Erdoğans im Juni 2018 begann eine neue politische Ära. Das parlamentarische System wurde von einem System abgelöst, das dem Präsidenten exzessive Macht verleiht – mit weitreichenden Konsequenzen: Der sich bereits früher abzeichnende autoritäre Trend wurde verstärkt, fundamentale zivile Freiheiten, Rechtsstaatlichkeit sind erodiert, die gesellschaftliche Polarisierung entlang religiöser, ethnischer und ideologischer Linien wurde forciert. Die "neue Türkei" Erdoğans wird daher nicht mehr als eine Demokratie klassifiziert. Man spricht von einem kompetitiven oder elektoralen Autoritarismus – ein System, in dem der Präsident uneingeschränkte Macht hat. Die Institutionen, vor allem die Justiz, sind nicht länger unabhängig, 90 Prozent der Medien werden kontrolliert. Das Regime greift auf alle Ressourcen des Staates zurück, um die Opposition in Schach zu halten. Die jüngsten Wahlen mögen zwar frei gewesen sein, aber gewiss nicht fair.
Erdoğan jetzt und für immer
Erdoğan ist charismatisch, er gilt als wortgewandt und ist populär im Volk („einer von uns“), vor allem in konservativ islamischen Kreisen. Sie sind ihm dankbar dafür, dass der Islam unter seiner Führung wieder eine zentralere Rolle im öffentlichen Leben spielt. Diesen ebnete er den Weg zur politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Teilhabe und inszenierte sich als „einer vom Volk“, der sich gegen das kemalistisch säkulare Establishment und das Militär, durchgesetzt hat. Der wirtschaftliche Aufschwung der frühen 2000er Jahre, die Verbesserung des Gesundheitswesens, aber auch zahlreiche prestigeträchtige Großbauprojekte (Flughafen Istanbul) haben zu seiner Beliebtheit beigetragen. Zentral ist sicherlich der Umstand, dass die regierende AKP in den letzten Jahren ein Klientelsystem geschaffen hat, dessen Profiteure die neuen Eliten, regierungsnahe Unternehmen sowie die ärmere städtische Bevölkerung waren, an die öffentliche Aufträge sowie Ressourcen flossen. Diese Art der Ressourcenverteilung und damit Interdependenz sind Kennzeichen nicht nur des autoritären Systems in der Türkei. Geht man von den Wahlen der letzten Jahre aus, ist Erdoğan bei Auslandstürk*innen sogar noch beliebter, nicht zuletzt in Deutschland und Österreich, wo die AKP über ein engmaschiges Netz von Einrichtungen gezielt Diasporapolitik betreibt. Die überwiegende Mehrheit der türkischen Wähler*innen und Erdoğan-Sympathisant*innen entstammen Familien, die ursprünglich aus ländlichen und konservativ-traditionellen Regionen der Türkei stammen, deren Werte offenbar auch noch in der dritten Generation gepflegt werden.
„Neue Türkei“ quo vadis?
Obwohl Erdoğan die Wahl wieder gewonnen hat, zeigt das Wahlergebnis auch, dass fast die Hälfte der Bevölkerung seine autoritäre Politik nicht unterstützt. Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind alles andere als gut; die türkische Lira hat nach der Wahl weiter an Wert verloren, die Inflation sank zuletzt zwar, ist aber mit weit über 40 Prozent immer noch erschreckend hoch. Die bisher irrationale Wirtschaftspolitik Erdoğans, die nichtexistierende Unabhängigkeit der Institutionen (wie die der Notenbank) sowie die fehlende Rechtsstaatlichkeit dürften das Vertrauen von Investor*innen nicht erhöhen. Die Berufung eines international ausgewiesenen Ökonomen als Finanzminister mag als Versuch einer Kehrtwende gewertet werden. Allerdings scheint der alte/neue Präsident, das zeigen seine ersten Reden, nicht gewillt zu sein, in allen Bereichen moderatere Töne anzuschlagen – im Gegenteil: In seiner ersten Ansprache nach dem Wahlsieg griff er, wie zuvor im Wahlkampf, die LGBTQ+ Community an. Seine aggressiv-konfrontative und interessensgeleitete Außenpolitik, die von Anhänger*innen als Stärke interpretiert wird, wird sich vermutlich nicht ändern. Das macht die Türkei zu einem schwierigen Bündnispartner für die NATO und die EU. Sich von der Türkei, einem geostrategisch wichtigen Land, abzuwenden, dürfte allerdings keine Option sein. Daher schickten sich auch die Staatsoberhäupter der westlichen Welt pflichtschuldig an, Erdoğan zur gewonnenen Wahl zu gratulieren, gleich nach dem dies der russische Staatschef Wladimir Putin, der Emir von Katar und der Regierungschef der Taliban getan hatten. Ob das von Erdoğan und seiner Partei etablierte, autoritär-klientilistische System weitere fünf Jahre übersteht und seine Wählerschaft bei sich verschlechternden ökonomischen Bedingungen uneingeschränkt hinter ihrem „Reis“ (Führer) stehen wird, bleibt abzuwarten. Klar ist aber, dass sich die Türkei nach Erdoğan nicht über Nacht in eine stabile Demokratie verwandeln wird. Aber Potential hat das Land mit seiner jungen Bevölkerung allemal.