Spoken Word

Gesellschaftskritik on the mic

25. Mai 2023 von Hanna Möller
Auf den großen Poetryfestivals räumen neuerdings Performer*innen die Preise ab. Welche Kräfte das Spoken Word birgt und wie sich die Szene in Großbritannien und Irland entwickelt hat, möchte Anglistin Julia Lajta-Novak genau wissen.

To whom it may concern. Tell me lies about Vietnam. In den 60er Jahren traf Adrian Mitchell mit seinem wütenden Anti-Kriegs-Gedicht einen Nerv. Als er seine Verse auf der legendären Dichterlesung "International Poetry Incarnation" zum Besten gab, bebte die prall gefüllte Royal Albert Hall unter seinen Worten.

Mit ihm auf der Bühne performten internationale Poeten der Gegenkultur, darunter Beat-Legende Allen Ginsberg und der österreichische Lautdichter Ernst Jandl. "Es war das britische Woodstock der Poesie", erklärt Uni Wien-Anglistin Julia Lajta-Novak – und mythischer Vorläufer der vibrierenden Spoken Word-Bewegung in Großbritannien und Irland. 

Kulturgeschichte flicken

Poesie ist viel mehr als nur das geschriebene bzw. gedruckte Gedicht, davon ist Lajta-Novak überzeugt. Doch die klassische Literaturwissenschaft hat die Poetry Performance viel zu lange vernachlässigt – und mit ihr ein wichtiges Kapitel der Kulturgeschichte. Während die Wissenschaft langsam aus dem Dornröschenschlaf erwacht, hat Anglistin Julia Lajta-Novak bereits 2011 mit einer Monographie zu Live Poetry den methodischen Grundstein für die akademische Auseinandersetzung gelegt. 

In ihrem aktuellen Projekt "Poetry Off the Page" hat sie es sich nun zur Aufgabe gemacht, die verschiedenen Linien der lyrischen Performance in Großbritannien und Irland historisch zu beleuchten. 

Der trinidadisch-britische Lyriker Anthony Joseph performt beim ViennaLit Poetry Festival in Wien.
Die Anglistin Julia Lajta-Novak erforscht alternative institutionelle Strukturen und Karrierewege, Publikationskanäle und Präsentationsformate sowie poetische Gattungen, die aus der Performance-Szene hervorgegangen sind. Im Bild: Der trinidadisch-britische Lyriker Anthony Joseph performt beim ViennaLit Poetry Festival in Wien. © CR ViennaLit

Mehr Infos zum Projekt

Julia Lajta-Novak und ihr Team untersuchen im Forschungsprojekt "Poetry Off the Page" die Bedeutung der Performance für die britische Literaturgeschichte. Die Ergebnisse erscheinen, voraussichtlich ab 2024, in Form von drei Büchern, zwei Special Issues von Literaturzeitschriften und mehreren Fachartikeln. Die mit "Spoken Word Poets" durchgeführten Interviews werden zu Projektende in einer Datenbank für Anschlussforschung zur Verfügung gestellt. Ein erweiterbarer Blog soll Performances für die Wissenschaft greifbar machen – auch jenseits des britischen Kontexts.

Das Projekt wird mit einem Consolidator Grant des Europäischen Forschungsrats sowie dem START-Preis des FWF gefördert. 

Poetry Performance – was ist das überhaupt?

Bedeutung entsteht in einem gesprochen Gedicht anders als im gelesenen Text. Durch den Einsatz von Stimme und Körpersprache, durch die Interaktion mit dem Publikum sowie die Präsenz der vortragenden Person ergibt sich "eine Art zweiter Layer", so Anglistin Lajta-Novak, während sie nach einem deutschen Begriff ringt. "Mehrdeutigkeit", schiebt sie nach einem kurzen Moment des Überlegens nach und bringt ein Beispiel: 2002 schlüpfte die afro-amerikanische Dichterin Patricia Smith in die Rolle eines weißen Rassisten. Während der Live-Performance von "Skinhead" hatten die Zuseher*innen eine schwarze Frau vor sich, die auf der Bühne rassistische Parolen rezitierte. Für die Poetry-Expertin Lajta-Novak eine "eindrückliche visuelle Ironie", die Smith Beifall vom Publikum und im Nachklang jede Menge YouTube-Klicks einbrachten.

Patricia Smith während ihrer Live Performance von "Skinhead" (2002).

Von Auftritten wie diesen stehen der Wissenschaft – im besten Fall – nur noch Spuren zur Verfügung, die meisten Performances werden bruchstückartig oder gar nicht aufgezeichnet. "Während der Performance eine*r meiner Lieblingskünstler*innen wurde die laufende Kamera mit einer unbemerkten Handbewegung umgeworfen, die restlichen 15 Minuten ist nur die Decke des Veranstaltungsortes zu sehen", veranschaulicht Lajta-Novak. 

Die Flüchtigkeit und Unvollständigkeit des Materials, gleichzeitig aber auch seine Fülle, stellen die Expertin und ihr Team vor Herausforderungen. Sie haben sich daher starke Kooperationspartner*innen ins Boot geholt: U.a. die Britische Poetry Organisation Apples and Snakes, die National Library of Ireland und das Spoken Word Archive versorgen die Wiener Wissenschafter*innen mit digitalem und teils bereits katalogisiertem Performance-Material.
 

Das geschriebene Wort ist in sich abgeschlossen. Die Performance aber lebt davon, wo und wie sie stattfindet."
Julia Lajta-Novak

Benachteiligte Dichter*innen ans Mikrofon

Um ein Gedicht in Buchform zu veröffentlichen, braucht es Zugang zum Literaturbetrieb, einen Verlag, Feedbackschleifen, Ausdauer und bestenfalls Beziehungen – das Mikrofon in einem Pub in die Hand zu nehmen oder ein Video auf YouTube hochzuladen, ist vergleichsweise einfach. Aus diesem Grund finden sich in der Spoken Word Szene mehr Dichter*innen aus gesellschaftlichen Randgruppen, so Lajta-Novak. 

In "Dear Hearing World" schildert der gehörlose, mit dem Griffin Poetry Prize ausgezeichnete Dichter Ray Antrobus seine Diskriminierungserfahrungen im Alltag. Mit seinem Text nimmt er Bezug auf Danez Smith, ein*e schwarze*r, queere*r Poet*in aus den USA, bekannt geworden durch die Performance "Dear White America".

Widerständige Verse

"Mich fasziniert, wie schnell Poetry Performances auf aktuelle Diskurse reagieren und diesen auch etwas entgegenhalten können", so Lajta-Novak. Wenn Elvis McGonagall den Brexit mit beißender Kritik in Versform kommentiert. Wenn feministische Performances die irische Verfassungsänderung anprangern, die Mutter und dem ungeborenen Kind das gleiche Recht auf Leben zuspricht – und schließlich helfe, diese zu Fall zu bringen. Oder wenn ein betagter Adrian Mitchell 2003 auf der größten Demonstration, die Großbritannien je gesehen hat, sein Anti-Kriegs-Gedicht nochmals vorträgt: To whom it may concern. Tell me lies about Iraq. Poetry Performances erzählen viel über unsere Kultur, so Lajta-Novak; mit ihrer Forschungsarbeit möchte sie dazu beitragen, dass sie wissenschaftlich bearbeitet werden und überdauern.

Mein langfristiges Ziel ist es, Poetry Performance Studies als anerkannten, interdisziplinären Forschungszweig zu etablieren.
Julia Lajta-Novak

Spoken Word in Wien

Julia Lajta-Novak war in ihrer frühen Kindheit ein "Showpony", das bei feierlichen Anlässen vor der Familie Gedichte rezitierte. So richtig sprang der Slam-Funke aber erst in London über, als sie Kulturmanagement studierte und Open Mic Events zum fixen Abendprogramm gehörten. Zurück in Wien importierte sie ein Stück dieser Szene und gründete den Verein ViennaLit, für den sie neben der wissenschaftlichen Arbeit heute kaum noch Zeit hat. 

Der trinidadisch-britische Spoken-Word-Künstler Anthony Joseph kombiniert in seinen Performances Poetry mit Musik der Karibikinseln. Er gehört mittlerweile zu den Größen der Szene, die mit ihren Auftritten mehrere Hunderte Besucher*innen anlocken. 2006 holte Julia Lajta-Novak den Künstler mit ViennaLit nach Wien. Die Aufzeichnung zeigt seine ausverkaufte Performance beim EFG London Jazz Festival von 2021.

Wer Poetry Performances in Wien erleben möchte, kann dies regelmäßig im Literaturhaus oder in der Alten Schmiede, verrät Lajta-Novak. Dort finden immer wieder Lesungen mit Performance-Charakter statt. Auch organisiert Mieze Medusa als Pionierin der Wiener Szene regelmäßig Veranstaltungen und Diana Köhle hosted den Slam B, seit kurzem im Filmhaus am Spittelberg. Von der Poetry-Expertin empfohlen. (hm) 

© FWF/Daniel Novotny
© FWF/Daniel Novotny
Julia Lajta-Novak studierte Anglistik und Musik in Wien und Edinburgh sowie Kulturmanagement in London. Forschungsaufenthalte führten sie u.a. an die Universität Salzburg, das King's College London, das Institute of English Studies der Universität London und die English Faculty der Universität Oxford.

Ihre Faszination für Poetry Performances widmet sie sich auch wissenschaftlich – 2011 erschien ihre Monografie "Live Poetry", sie erhielt für ihre Leistungen in diesem Bereich einen START-Preis und leitet aktuell das ERC-Projekt "Poetry Off the Page".