Papyrus: Zeugnis von Freuden, Sorgen und Geschäften
Rudolphina: Herr Palme, seit wann kennt die Menschheit Papyrus, wie wurde es entdeckt und verbreitet?
Bernhard Palme: Am Beginn des 3. Jahrtausends v. Chr., bald nach der Entwicklung der Hieroglyphenschrift, hat man in Ägypten ein Verfahren entwickelt, um aus der am Nil wachsenden Papyrusstaude ein einfach zu handhabendes und kostengünstiges Beschreibmaterial herzustellen. Den Stamm der Staude schnitt man in dünne Streifen, legte sie kreuzweise übereinander und erzeugte durch Pressung ein etwa quadratisches Blatt von ca. 35 mal 35 Zentimeter. Indem man viele Blätter aneinanderklebte, fabrizierte man eine Schriftrolle, die bis ins Frühmittelalter die beherrschende Form des Buches blieb. Spätestens seit dem Hellenismus hat man Papyrus in großen Mengen hergestellt und in die gesamte Mittelmeerwelt exportiert, so dass z.B. im römischen und frühbyzantinschen Reich Papyrus als Beschreibmaterial für literarische Texte und alle Schriftstücke des Alltags (Briefe, Verträge, Buchhaltung, Magie etc.) ebenso extensiv verwendet wurde wie heute Papier.
Als organisches Material kann Papyrus aber nur in extrem trockenen Klimazonen überleben. Deshalb stammen über 95 Prozent aller heute erhaltenen Papyrusdokumente aus Ägypten, dem Heimatland dieses Beschreibstoffes. Und selbst dort ist die räumliche Verteilung der Fundstätten sehr unausgewogen, weil vor allem in den Siedlungen nahe der Wüste, nicht jedoch in den Städten des Nildeltas Dokumente erhalten blieben. So gibt es beispielsweise aus Alexandria, wo die berühmteste Bibliothek der Antike stand und über tausend Jahre lang das administrative Zentrum Ägyptens war, nur einzelne Texte, die schon in der Antike in kleine Dörfer am Rande des Fayums (ein oasenartiges Becken in Ägypten, südlich des Qarun-Sees) geschickt worden waren. Vereinzelte Papyrusfunde zeigen jedoch, dass im Altertum Papyrus im gesamten Römischen Reich und im Osten weit darüber hinaus bis nach Afghanistan verwendet wurde.
Papyrustexte beleuchten vielfältige Situationen einer historischen Lebenswelt, die in anderen Überlieferungen aus der Antike so gut wie gar nicht zur Sprache kommen.Bernhard Palme
Rudolphina: Welchen Wert hat das Material Papyrus für die Forschung?
Palme: Für die Forschung sind die Papyri vor allem wegen der vielfältigen Texte wichtig, die auf ihnen zu lesen sind. Zum einen sind etliche literarische Werke der Antike, auch von namhaften Autoren wie Aristoteles oder Menander, nur auf Papyrus erhalten geblieben. Zudem liefern uns Papyri auch von Schriften, die über die mittelalterliche Handschriftentradition auf uns gekommen sind, oftmals Textzeugnisse, die um viele Jahrhunderte älter – und daher näher am originalen Text – sind, als auch die frühesten Codices. Deshalb sind sie für die Textkritik und Überlieferungsgeschichte von zentraler Bedeutung.
Herstellung von Papyrus
Papyrus stammte von Papyruspflanzen, die früher zahlreich am Nilufer wuchsen. Das wichtige Material befand sich im Inneren der Hauptstängel, also wurde nach der Ernte zunächst die Außenschale abgeschält. Das darin enthaltene Mark schnitt man in dünne Streifen und klopfte sie anschließend ganz flach. Die so entstandenen Papyrusstreifen legte man auf einer Länge von rund 35 Zentimeter nebeneinander, so dass sie sich leicht überlappten und legte eine weitere Schicht quer über diese Reihe. Wiederum wurden dann die Streifen geklopft und durch den dabei freigesetzten Pflanzensaft zusammengeklebt. Das soweit fertige Blatt Papyrus wurde unter einem schweren Stein getrocknet und gepresst.
Zum anderen ist es die große Masse von dokumentarischen Texten des Alltags, die für die historischen und philologischen Fächer, aber auch für die Theologie und Rechtsgeschichte eine fast unüberschaubare Fülle an wertvollen neuen Informationen liefert. Jedes einzelne Schriftstück ist ein Original, das ohne Verfälschungen durch Abschriften vor uns liegt. Die Papyrustexte beleuchten vielfältige Situationen einer historischen Lebenswelt, die in den anderen Überlieferungen aus der Antike so gut wie gar nicht zur Sprache kommen, weil die Historiographie und andere literarische Quellen auf Ereignisgeschichte und die jeweiligen Eliten fokussiert sind; während die gleichfalls zahlreichen Inschriften in erster Linie Texte transportieren, die für die Öffentlichkeit und für die dauerhafte Erinnerung geschrieben wurden.
Dagegen sprechen die Papyri von den mittleren und unteren Schichten der Gesellschaft, von Geschäften, Freuden und Sorgen der einfachen Menschen. In ihren Briefen und Urkunden reden diese Menschen sehr unmittelbar zu uns, und sie sprechen in jener Sprache, mit der sie untereinander kommuniziert haben. So erschließen Papyri riesige Bereiche der antiken Gesellschaft und Wirtschaft, der staatlichen und juristischen Einrichtungen sowie der Mentalitäten, die uns ansonsten verloren wären.
Jedes einzelne Schriftstück ist ein Original, das ohne Verfälschungen durch Abschriften vor uns liegt.Bernhard Palme
Rudolphina: Worin liegen die Herausforderungen in der Erforschung von Papyrus?
Palme: Papyrus blieb bis in das 10. Jahrhundert n. Chr. das beherrschende Beschreibmaterial der Mittelmeerwelt und des Nahen Ostens, bevor es von Papier abgelöst wurde. Insgesamt liegen uns in den weltweit etwa eine Million erhaltener Papyri demnach 4.000 Jahre Kulturgeschichte vor. In allen Sprachen und Schriften, die im Laufe der langen und wechselhaften Geschichte Ägyptens dort gesprochen und geschrieben wurden: vom Alten Reich der Pharaonen, über die hellenistische, römische und byzantinische Epoche bis zum arabischen Mittelalter. Da die Entzifferung der meist kursiven Schriften viel Zeit und Mühe erfordert, sind bislang kaum 80.000 dieser Texte publiziert worden. Das wissenschaftliche Potenzial der Papyri liegt also auch darin, dass sehr viel Material noch auf die Bearbeitung wartet. Papyri sind die bei weitem wichtigste Quelle neuer Informationen über viele Bereiche des Altertums und Frühmittelalters.
Serie: Wissenschafter*innen präsentieren "Materialien der Zukunft"
In dieser Serie stellen Wissenschafter*innen der Uni Wien jeweils ein "Material der Zukunft" vor, das neu und vielversprechend ist oder unsere Gesellschaft in der Vergangenheit besonders geprägt hat. Nächste Woche berichtet Cornelia Staritz vom Institut für Internationale Entwicklung über das für die Industrie so wichtige Leichtmetall Lithium und seine problematische Seite: Die Gewinnung reproduziert ungleiche globale ausbeuterische Muster und führt zu problematischen ökonomischen, sozialen und ökologischen Auswirkungen in den Abbauregionen. Zur Serie
Rudolphina: Was fasziniert Sie persönlich an Ihrem Forschungsmaterial Papyrus?
Palme: Das Faszinierende an der Arbeit mit Papyri ist, dass in jedem ungelesenen Dokument neues Wissen enthalten ist, in vielen Bereichen noch Pionierarbeit zu leisten ist und die Texte einem unmittelbar in die Welt der Antike tragen.