Planet und Mensch

Macht moderne Medizin unseren Planeten krank?

14. März 2023 Gastbeitrag von Janina Kehr
Wir denken kaum daran, was unsere alltägliche medizinische Versorgung an Materialien, Rohstoffen und Energie benötigt, damit Krankenhäuser, digitale Diagnoseverfahren und ausgeklügelte Behandlungen funktionieren. Wie aber wirkt sich unsere Gesundheitsversorgung auf die Umwelt aus? Macht moderne Medizin unseren Planeten krank?
Gesundheitsversorgung und Arzneimittel sind für viele von uns im Alltag so selbstverständlich, dass wir kaum einen Gedanken daran verschwenden, was Medizin an Neben- und Abfallprodukten produziert. © Pixabay

Wann waren Sie das letzte Mal im Krankenhaus? Nehmen Sie ihre Blutdrucksenker morgens oder abends ein? Wer verwaltet in der Familie die Hausapotheke, und was passiert mit abgelaufenen Medikamenten: Landen sie im Hausmüll, oder bringen Sie sie in die Apotheke zurück? Gesundheitsversorgung und Arzneimittel sind für viele von uns im Alltag so selbstverständlich, dass wir kaum einen Gedanken daran verschwenden, was Medizin an Neben- und Abfallprodukten produziert. Am ehesten kommen vielleicht noch Bilder von gebrauchten Schutzmasken am Straßenrand oder von mit Plastikbechern gefüllten Mistkübeln vor den Covid-19-Teststationen in den Sinn.

Planetare Gesundheit

Planetare Gesundheit bedeutet, dass menschliche Gesundheit von natürlichen Systemen und unserem Umgang mit ihnen abhängt. Wie die Anthropozänforschung zeigt, haben Menschen im Zuge von Industrialisierung, Kolonialisierung und Wirtschaftswachstum die natürlichen Systeme bereits so massiv geschädigt, dass sich Umweltverschmutzung und Klimawandel mittlerweile nicht nur auf Ökosysteme, sondern auch auf die menschliche Gesundheit negativ auswirken. Paradoxerweise trägt unsere hochtechnisierte medizinische Versorgung dazu bei. Überspitzt ausgedrückt: je mehr Medizin, desto mehr Umweltzerstörung, desto mehr potenziell negative Auswirkungen auf unsere Gesundheit.

Die Menge macht's

Allein im Jahr 2018 schluckten Menschen weltweit 40,1 Milliarden Tagesdosen an Antibiotika. Bei Überkonsum drohen Antibiotikaresistenzen. Viele unserer alltäglichen Medikamente werden nicht dort konsumiert, wo sie produziert werden. Die Warenketten sind dementsprechend lang und instabil, wie die rezente Debatte um Lieferschwierigkeiten von Medikamenten in Österreich gezeigt hat. Lange Warenketten tragen in beträchtlichem Maße zur CO2-Bilanz von Gesundheitssystemen bei, was sich wiederum negativ auf das Klima auswirkt.

Medikamentenrückstände finden sich vielerorts in Gewässern und Böden, teilweise in solch hoher Konzentration, dass sie toxisch für Algen, Fische oder Krebstiere sein können. Im AKH Wien entstehen ca. 16.000 Kilo Abfälle pro Tag, die entsorgt werden müssen. Auch wenn Krankenhausmüll hierzulande durch Richtlinien des Umwelt- und Arbeitnehmer:innenschutzes recht aufwendig entsorgt wird, ist das aufgrund von beschränkten Ressourcen nicht überall auf der Welt der Fall. Die WHO warnt vor Risiken für die menschliche Gesundheit, beispielsweise durch giftige Emissionen oder gar zellschädigende Stoffe, die bei der Verbrennung und Entsorgung von medizinischem Abfall entstehen können.

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Medizin mit Maß

Alle Bereiche der medizinischen Versorgung, vom Krankenhaus über diagnostische Geräte bis hin zu Arzneimitteln und hygienischen Einwegprodukten, benötigen Rohstoffe, verbrauchen Energie und hinterlassen materielle Spuren in der Umwelt, sei es in Form von Arzneimittelrückständen, medizinischen Abfällen oder Emissionen. Dennoch möchten wohl die meisten Menschen, mich eingeschlossen, moderne Medizin nicht missen. Eine umfassende und gerechte Gesundheitsversorgung ist ein zentraler Pfeiler wohlfahrtsstaatlicher Gesellschaften. Krebstherapien, Diabetesmedikamente und Herz-Kreislauf-Behandlungen gehören in Österreich zum Alltag vieler.

Trotzdem sollten wir die Frage diskutieren, welches Maß an Medizin für uns und unseren Planeten noch gesund ist. Dies hat der österreichische Denker Ivan Illich auf radikale Weise schon in den 1970er-Jahren getan, als er in seinem Werk "Die Nemesis der Medizin" die sogenannte Kontraproduktivität industrialisierter Medizin beklagte, die, laut ihm, zu mehr Krankheit als Gesundheit führe. Internationale Initiativen wie Healthcare without Harm sind heute weitaus pragmatischer und suchen nach konkreten Lösungsansätzen, um beispielsweise den Plastikverbrauch in Krankenhäusern zu verringern oder, wie es seit 2023 in Frankreich geschieht, medizinische Produkte mit einem CO2-Fußabdruck-Bericht zu versehen.

In Zeiten von Klimawandel, Umweltverschmutzung und der Ausbeutung von Menschen und Ressourcen sollten wir gemeinsam über das Wie und Wieviel von Medizin diskutieren und dabei auch die planetarischen und gesundheitsschädlichen Nebenwirkungen moderner medizinischer Versorgung nicht ausblenden. Braucht es immer mehr Medizin, oder geht Gesundheitsversorgung auch anders?

© Eva Meillan-Kehr
© Eva Meillan-Kehr
Janina Kehr ist Professorin für Medizinanthropologie und Global Health an der Universität Wien und Gründerin der Forschungsgruppe Health Matters. Ihre Arbeiten beschäftigen sich mit globalen Infektionskrankheiten, gesundheitlichen Ungleichheiten und Krankenhäusern als komplexe gesellschaftliche Institutionen. Die Schwerpunkte liegen dabei auf den kolonialen Heimsuchungen, moralischen Ökonomien und Umweltauswirkungen von Biomedizin und öffentlicher Gesundheit.