Demokratie und Digitalisierung

Zweifel ist eine Frage der Bildung

7. Dezember 2022 von Daniel Schenz
Hat die Digitalisierung das Versprechen gebrochen, alles Wissen zugänglich und die Welt dadurch demokratischer zu machen? Bildungswissenschafter Fares Kayali erklärt, dass vielen komplexen Fragen nicht durch mehr Information, sondern durch das Anerkennen von Komplexität begegnet werden muss: "Und das ist es, was Bildung ausmacht".
Bildung hilft dort Handlungsfähigkeit zu wahren, wo "ständig zu reflektieren, informieren, diskutieren und sich ständig in veränderlichen Materialien neu zu positionieren" gefragt ist, sagt Fares Kayali. © Chris Yunker/Center for Teaching and Learning, Universität Wien

"Als Menschen haben wir ein gewisses Sicherheitsbedürfnis. Deswegen nehmen wir Veränderungen wie die Digitalisierung im ersten Impuls oft ablehnend wahr", sagt Fares Kayali, der an der Universität Wien zu Potenzialen und Gefahren der digitalen Transformation für die Bildung forscht. Und tatsächlich bringen digitalisierte Prozesse verschiedene Probleme mit sich, wie beispielsweise die Benachteiligung von Menschen mit fehlendem oder unzureichendem Zugang zu den neuen Technologien, oder das Schüren von Polarisierungen, die die Gesellschaft spalten, in den sogenannten "Echokammern" der sozialen Medien. Darüber hinaus zeigen Fälle wie die Diskussion um Cambridge Analytica, dass es sehr einflussreiche Akteur*innen gibt, die demokratische Prozesse zwar maßgeblich beeinflussen können, ohne aber an deren Erhalt Interesse zu zeigen.

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Audimax Podcast mit Fares Kayali
Den Austausch zwischen den Lernenden ermöglichen und berücksichtigen, dass nicht alle über das gleiche technische Equipment verfügen. Diese Aspekte seien jetzt besonders bedeutend, sagt Fares Kayali, Professor für Digitalisierung im Bildungsbereich, im Podcast der Universität Wien.
"Viel hängt von der Fähigkeit ab, ein positives Bild des eigenen Gestaltungsspielraumes zu haben."
Fares Kayali

Beispiele wie diese führen dazu, dass viele Menschen Digitalisierungsprozesse generell ablehnen. Andere nehmen sie auch resigniert hin. Beiden Reaktionen liegt laut Fares Kayali eine Entkoppelung der Menschen von ihrer Teilhabe an der Diskussion zugrunde – "das heißt, sie verlieren die Bereitschaft, an einem (selbst-)kritischen Meinungsaustausch zu dem facettenreichen Thema zu partizipieren". Kayali beobacht diese "Dissoziation" überall dort, wo Menschen kein positives Bild ihrer Selbstbestimmtheit in einem Prozess mehr entwerfen können – zum Beispiel, wenn Schüler*innen sich aus einem sehr stark normierten Unterricht ausklinken oder wenn sich Menschen in der Demokratie nicht mehr repräsentiert fühlen.

"Das große Versprechen des Internets war ja eigentlich, dass alles viel demokratischer wird, dass endlich alle Stimmen gehört werden. Und jetzt finden wir uns in einer Situation, in der nur ein Bruchteil der Stimmen gehört wird, aber dafür umso lauter – und so diese anfängliche Verheißung nicht erfüllt wird", so der Bildungswissenschafter. Obwohl das Internet die Kommunikation also erleichtert, scheinen sich viele Menschen dennoch immer schlechter in Diskussionen involviert zu fühlen. Um zu erklären, wie es dazu kam und was demnach einen Ausweg bieten kann, gibt Kayali zwei Beispiele. 

Digitales Lernen funktioniert, aber nicht alleine

Das erste Beispiel kommt aus Kayalis eigener Erfahrung mit digitalen Bildungsangeboten. Diese gab es schon vor der Pandemie, in einer Vielzahl an Formaten, von partizipativen Lexika wie Wikipedia über hochqualitativen Content auf Streaming-Plattformen wie Youtube bis hin zu universitär organisierten Online-Kursen, sogenannten "MOOCs". "Vor allem während der Lockdowns hat sich gezeigt, dass viele Online-Formate deutlich besser funktionieren, als die meisten antizipiert hätten, sowohl technisch als auch didaktisch", blickt Kayali zurück.

Neuer MOOC "Digitales Leben 3" – ab 12.12.

Auf iMooX werden frei zugängliche und offen lizenzierte Online-Kurse (Massive Open Online Courses) zu unterschiedlichen Themen angeboten, die allen Interessierten kostenlos, zeit- und ortsunabhängig zur Verfügung stehen. Im jüngsten Teil des von Fares Kayali geleiteten MOOC "Digitales Leben 3" beschäftigen Sie sich mit der Frage, welche Rolle jede*r Einzelne dabei spielen kann, den gesellschaftlichen Raum sowie unsere Technologien mitzugestalten, sowie wie die beiden miteinander verbunden sind.

Allerdings war auch festzustellen, dass durch die digitalen Bildungsformate der soziale Aspekt des Lernens vernachlässigt wurde, darunter das für Diskussionen in Präsenzformaten so wichtige Erfühlen der Raumstimmung, und an dessen Stelle zahlreiche Ablenkungsquellen traten. "Das passiert aber nur dann, wenn Online-Kurse als Ersatz für Präsenz genutzt werden. In meinen Lehrveranstaltungen habe ich wenige Nachteile durch die Digitalisierung. Es gibt nur keine Frontalvorträge mehr, die ganze Inhaltsebene wird daheim selbstorganisiert rezipiert. In den Lehrveranstaltungseinheiten trifft man sich dann aber, um in verschiedenen Formaten zu diskutieren", erklärt der Experte für digitale Bildung aus der eigenen Lehrpraxis.

Das Beispiel zeigt laut Farey Kayali: Informationsaufnahme und Meinungsbildung sind zwei verschiedene Dinge, für die sich digitale Formate nicht gleichermaßen eignen. Denn vor allem der für die Meinungsbildung benötigte persönliche Austausch kann digital (noch) nicht ersetzt werden.

Ein Seminarraum mit fünf Menschen, vier am Tisch sitzend und teils auf Papier schreibend, teils zur Tafel blickend, ein Mensch steht an der Tafel, auf dem bunte Post-Its kleben. Auf dem Tisch einige Laptops und Trinkgefäße.
"In den Lehrveranstaltungseinheiten trifft man sich dann aber um in verschiedenen Formaten zu diskutieren. Und damit glaube ich, wenig der Nachteile von Digitalisierung zu haben", erklärt Fares Kayali. © Jason Goodman via Unsplash

Aber ist das auch in anderen Kontexten der Bildung so? Ein generelles Rezept für den perfekten, digitalisierten Unterricht gibt es jedenfalls nicht: "Für jede Umgebung, jede Lehrveranstaltung und jedes Thema muss immer wieder neu überlegt werden, an welchen Stellen welche digitalen Formate bereichernd wirken", eklärt Kayali.

Wo eine Gestaltungsperspektive fehlt, leidet die Empathie

Die Pandemie hat ein weiteres Beispiel für die Enttäuschung des Versprechens der Digitalisierung für die Demokratie zutage gefördert: In der Debatte über Corona-Maßnahmen lag der Schwerpunkt der Befürworter*innen im Aufzeigen und Erklären der sachlichen Fakten. Und gerade weil diese Fakten – der Digitalisierung sei Dank – so einfach zugänglich sind, scheint sich die Frage zu stellen, warum die Menschen diese nicht auch einfach anerkennen wollen?

"Zu fordern, dass die Menschen sich doch bitte informieren und die Fakten anerkennen mögen, ist ein sehr starker Anspruch, den wir stellen. Offensichtlich fehlt aber etwas, sonst würden es ja alle tun. Die spannende Frage ist, wie holt man die Menschen an Bord? Und was ist passiert, dass die Fakten alleine nicht reichen? Nämlich bei allen, auch jenen, die da moralisch mit dem Finger zeigen und sagen: 'Du sollst die Fakten anerkennen!' Denn auch dabei zeigt sich die Entkoppelung: Hier haben die Menschen die Empathie für andere und ihre Positionen verloren."

Eigentlich beziehen die meisten Menschen grundsätzlich gerne Position, analysiert Kayali, und das sei grundsätzlich ein gutes Anzeichen für eine demokratische Kultur. Im Fall der Diskussion um die Corona-Maßnahmen waren es aber vor allem negative Positionen, die eingenommen wurden: "gegen Masken oder gegen jene, die gegen Masken sind", wie es der Wissenschafter formuliert. Den Menschen fehlte eine positive persönliche Vision und das erzeugte bei vielen das Gefühl von Ausgeliefertheit. Das erkläre wiederum den bereits erwähnten Verlust an Empathie für Menschen anderer Positionen und warum es so schwierig war, die ambivalente Situation als solche anzuerkennen.

Ein Grundproblem im Erkennen von Ambivalenzen ist ja: Je einfacher es scheint, eine Position einzunehmen, desto schwieriger wird es zu erkennen, dass es mehrere Positionen geben kann. Und hierin besteht der zweite Hinweis auf den Grund für das gebrochene Versprechen der Digitalisierung, denn gerade eine größere Verfügbarkeit von einfach zugänglichen Informationen schürt dieses Problem dann eher, als es zu mindern.

Es gibt Wege, ein Gestaltungsperspektive aufzubauen

Anstatt mehr Wissen braucht es also Bildung – die Fähigkeit, sich kritisch mit sich selbst und der Welt auseinanderzusetzen. Das hat auch die Politik erkannt und versucht, mit einem neu geschaffenen Schulfach "Digitale Grundbildung" gegenzusteuern. In diesem sollen Schüler*innen lernen, digitale Medien sicher, kompetent und gestaltend zu nutzen. "Um diesem hohen Anspruch aber zu genügen, ist eine Jahreswochenstunde freilich zu wenig", meint Kayali. Und überhaupt, selbst im Idealfall trifft diese Maßnahme nur die jetzigen Sekundarschüler*innen. Was können wir anderen tun?

"Bei allem, was gratis ist, bist du selbst das Produkt."
Fares Kayali

"Wir können damit anfangen zu erkennen, dass uns gewisse persönliche Gestaltungsspielräume verbleiben", erklärt Fares Kayali, und einer davon sei unser Geld: "Es braucht deutlich mehr Bewusstsein, dass der Anspruch, im Internet alles gratis nutzen zu können, nicht in Überraschung darüber münden darf, mit welchem Unsinn wir bespielt werden." Glücklicherweise zeigt sich bei vielen Medien, dass Nutzer*innen durchaus vermehrt bereit sind, für qualitativ hochwertige Inhalte zu zahlen.

Ein weiterer Gestaltungsspielraum drückt sich in einer anderen Währung aus, die vor allem in sozialen Medien Gültigkeit hat, nämlich in der Aufmerksamkeit. Wenn ein Dienst nicht mehr unseren Ansprüchen genügt, ist es durchaus möglich, abzuwandern – kein Dienst ist alternativlos. Tatsächlich zeigt sich dies auch in der wechselnden Popularität verschiedener sozialer Medien, und auch Prominente machen gelegentlich damit Schlagzeilen, dass sie sich von einem Dienst verabschieden, wie wir aktuell auf Twitter beobachten können. "Wir sind nicht einfach ausgeliefert, sondern haben Entscheidungsfähigkeit, wo wir im Digitalen unser Geld hintun und wo wir uns selbst quasi als Produkt hingeben", sagt Kayali.

Die Realität ist ambivalent und Bildung hilft, das anzuerkennen

Die Digitalisierung stellt die Demokratie vor eine große Herausforderung. Weder erfüllt sie das Heilsversprechen, das manche in ihr sahen, noch läutet sie den Untergang der Demokratie ein. Und wie bei den meisten komplexen Problemen befindet sich die Realität manchmal dazwischen, manchmal ist sie auch ambivalent. "In einer solchen komplexen Welt ist auch das Anerkennen von Ambivalenz bereits ein Standpunkt", erklärt der Bildungswissenschafter.

Forschungsprojekt "Serious Game Changers"

Im von Dr. Barbara Göbl geleiteten laufenden Forschungsprojekt "Serious Game Changers  – Digital Game-based Learning Workshops zur Förderung von Zukunftskompetenzen” arbeitet Kayali mit seinen Kolleg*innen daran, Spiele als Lehrmittel für den (Schul-)Unterricht zu entwickeln. Insbesondere geht es dabei um Spiele, die Menschen dazu verleiten, die Ambivalenz komplexer Sachverhalte anzuerkennen.

Das stellt laut Fares Kayali auch unsere Werte in Frage, denn ein starres oder homogenes Wertegerüst hilft da nicht weiter. Im Gegenteil, auch Werte müssen eben ständig neu verhandelt werden können. Wie also können Leute dazu eingeladen werden, in ihren Positionen beweglicher zu werden?

Kayali gibt diese Antwort: "Ich glaube, dass das eine Bildungsfrage und eine Frage des Selbstbildes ist. Wie begreife ich mich selber in dieser sich verändernden und teilweise jetzt digitalen Welt? Begreife ich mich als ausgeliefert? Oder begreife ich mich als aktiv handelnd und verständnisvoll?" Und gerade weil unser Selbstbild in einer solchen Situation stets unvollständig bleibt, bringe Bildung uns der Antwort ein Stück näher. (ds)

© Barbara Mair
© Barbara Mair
Fares Kayali ist Professor für Digitalisierung im Bildungsbereich am Institut für Lehrer*innenbildung der Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte sind u.a. Digitalisierung und Schule, Human-Computer Interaction und Design sowie Game-based Learning.

Nach einem Studium der Informatik an der Technischen Universität Wien arbeitete er als Spieleentwickler und gründete 2014 die Positive Impact Game Labs an der TU. Er habilitierte an der Universität für Angewandte Kunst Wien in Fachdidaktik.