Supercomputer, Schrödinger und die Energierevolution
Was haben Waschmittel, Gummi im Autoreifen und Paracetamol gemeinsam? Wie die meisten Materialien in unserem Alltag liegen sie nicht als fertige Produkte vor. In chemischen Reaktionen werden sie aus Ausgangsstoffen hergestellt. Für die Tastatur etwa, mit der dieser Text geschrieben wurde, wurden unzählige Einzelbauteile (Monomere) zu Polymeren verknüpft, um Kunststoff zu erhalten.
Doch jeder chemischen Reaktion stellt sich ein Hindernis in den Weg: Sie muss eine energetische Barriere überwinden, die sogenannte Aktivierungsenergie. Abhilfe schafft ein Katalysator. Katalysatoren sind Materialien, die chemische Reaktionen erleichtern, indem sie die Aktivierungsenergie senken (siehe Abbildung).
Tieferes Verständnis dank Computersimulation
Von Katalyse hängen also fast alle chemischen Produkte ab. Und wahrscheinlich auch die Energiewende. So könnte es eines Tages gelingen, mithilfe der Sonnenenergie umweltfreundlichen Wasserstoff im großen Stil herzustellen. Das Verfahren benötigt heute noch Katalysatoren aus Edelmetallen wie etwa Platin. Doch Platin ist ein teurer und seltener Rohstoff, der vor allem aus Südafrika und Russland kommt. "So viel Platin, wie wir brauchen, um genügend Wasserstoff herzustellen, steht schlicht nicht zur Verfügung", betont Georg Kresse, Professor für Computergestützte Materialphysik der Uni Wien.
Auf der Suche nach günstigen und effizienten Alternativen kommt es auf ein tiefes Verständnis der Vorgänge an, wenn Ausgangsstoffe und Katalysator zusammenkommen – Atom für Atom. Genau hier, wo wir die Größenordnungen der Chemie verlassen und in die Welt der Quantenphysik eintauchen, kommen Georg Kresse und sein Team ins Spiel. "Wir versuchen, im Computer die einzelnen Schritte einer katalysierten Reaktion zu simulieren, um sie vom Anfang bis zum Ende zu verstehen."
Katalysatoren zu optimieren geschieht normalerweise in langwierigen Trial-and-Error-Verfahren. Ließe sich das Verhalten von Materialien im Computer exakt simulieren, könnten Forschende geeignete Katalysatoren schneller entdecken und verbessern – mit enormem Innovationspotenzial für Forschung und Industrie. Denn je besser eine Katalyse funktioniert, desto ressourcenschonender und ökonomischer kann man ein Produkt herstellen. Sei es grünen Wasserstoff, neue Chemikalien oder synthetische Kraftstoffe aus Kohlendioxid.
Enge Zusammenarbeit für die Energierevolution
Entscheidend sei es, die Ereignisse an den Oberflächen von Materialien zu verstehen, betont Kresse. Um etwa Wasserstoff herzustellen, werden Wassermoleküle in einem Verfahren namens Elektrolyse gespalten. Dafür braucht es Strom, Wasser und Elektroden. Es gilt zu verstehen, was an der Oberfläche der Elektroden geschieht, die mit dem Wasser in Kontakt stehen. "Wir wollen die atomaren Prozesse im Detail analysieren und mit diesem Wissen verbesserte Elektroden identifizieren", so Kresse. Im Idealfall solche aus gängigen, günstigen Materialien anstelle von seltenen Elementen wie eben Platin.
An dieser wichtigen Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis ist Kollaboration gefragt. Für Forschende, die mit katalytischen Materialien experimentieren, kann der theoretische Input von Kresses Team entscheidend sein. "Wenn wir im Detail simulieren, wie eine Reaktion am Katalysator abläuft, können die Kolleg*innen dank dieser Informationen gezielt Parameter ändern und das Experiment optimieren", sagt Kresse. Der intensive Datenaustausch zwischen Theorie und Praxis führt oft zu einem tieferen Verständnis. Mit Simulationen und Softwarelösungen, die sie anderen Forschenden zur Verfügung stellen, sieht sich Kresses Team als "Enabler", also als Wegbereiter für die praktische Anwendung.
Forschen an den Energiespeichern von morgen
Im Zeitalter der erneuerbaren Energie ist die Frage der Energiespeicherung eine ganz zentrale. Denn nachhaltige Energiequellen wie Sonne und Wind haben einen Makel: Sie sind nicht rund um die Uhr verfügbar. Es braucht also einen Zwischenspeicher für die finsteren und windstillen Zeiten. Batterien und Pumpspeicherkraftwerke werden den Bedarf nicht decken können.
Dieser Herausforderung stellen sich die Forschungsgruppen des Exzellenzclusters "Materials for Energy Conversion and Storage". Sie entwickeln innovative Ansätze, um Energie in chemischen Bindungen zu speichern: Elektrokatalyse und Photokatalyse. Die Elektrokatalyse verwendet Grünstrom, um Wasser und CO2 elektrochemisch in Wasserstoff, synthetische Treibstoffe und Feinchemikalien umzuwandeln. Die Photokatalyse nutzt Sonnenlicht direkt für chemische Umwandlungen – ähnlich wie Pflanzen in der Photosynthese.
Im Spezialforschungsbereich TACO (TAming COmplexity in materials modeling) der Uni Wien und der TU Wien untersuchen theoretische und experimentelle Wissenschafter*innen aus den Bereichen Chemie, Physik und Verfahrenstechnik grundlegende Prozesse, die an komplexen Materialien ablaufen.
Die Schrödingergleichung: Unlösbar ist kein Hindernis
Ausgangspunkt für Kresses Simulationen ist die wohl berühmteste Formel der Quantenmechanik: Die Schrödingergleichung. "Für uns ist die Schrödingergleichung so etwas wie die Weltformel. Sie beschreibt alles, was wir sehen und erleben. Sogar die Eigenschaften von fast allen Materialien", erläutert Kresse.
Allgemein gesagt beschreibt die Gleichung die Dynamik eines Teilchens in einem Quantensystem, zum Beispiel eines Elektrons in einer chemischen Bindung. Theoretisch können Physiker so exakt vorhersagen, wie sich jedes einzelne Teilchen in einer chemischen Reaktion verhält. Leider gibt es einen Haken: Wenn viele Teilchen im Spiel sind, wie in jeder praktischen Anwendung, ist ein exaktes Lösen der Gleichung unmöglich. Selbst mit den schnellsten Supercomputern.
Für uns ist die Schrödingergleichung so etwas wie die Weltformel. Sie beschreibt alles, was wir sehen und erleben.Georg Kresse
Doch eine unlösbare Gleichung ist für theoretische Physiker*innen kein Hindernis. Mit speziellen Rechenverfahren kann sich Kresses Team der Lösung einer Schrödingergleichung annähern. Das Mittel der Wahl ist die sogenannte Dichtefunktionaltheorie (DFT), entwickelt vom gebürtigen Österreicher Walter Kohn, der 1998 dafür den Nobelpreis bekam. "Wir kombinieren die Schrödingergleichung mit der DFT und können so sehr effizient Prozesse mit bis zu 1000 Teilchen vorhersagen", erklärt Kresse. Ein wichtiger Schritt.
Dennoch gilt es, Methoden zu finden, die sich den Lösungen der exakten Schrödinger-Gleichung für sehr viele Teilchen annähern. "Mein Traum ist es, die Schrödingergleichung für relevante Materialien und katalytische Prozesse mit hinreichender Genauigkeit zu lösen. Vielleicht schaffen wir eines Tages einen Durchbruch mit besseren Methoden als der DFT. Aber noch ist deren Rechenaufwand dafür gigantisch."
Maschinelles Lernen als Gamechanger
Das Computerprogramm, das sich dieses Rechenaufwands annimmt, heißt VASP (Vienna ab initio simulation package) und ist Marke Eigenbau. Kresse ist Hauptautor des Programms, welches seine Forschungsgruppe ständig weiterentwickelt und anderen Forschenden zur Mitnutzung zur Verfügung stellt. Studien legen nahe, dass VASP das weltweit meistverwendete Programm für quantenmechanische Simulationen von Materialien ist. Es läuft u.a. am Vienna Scientific Cluster, dem leistungsfähigsten Computer Österreichs. Dieser kann Billiarden von Rechenoperationen pro Sekunde ausführen.
Trotz modernster Hardware ist die Rechenleistung, die Kresse und Kolleg*innen zur Verfügung steht, limitiert. Die jüngsten Entwicklungen im Bereich des maschinellen Lernens geben ihm aber Anlass zur Hoffnung. "Machine Learning hat zu einer Revolution geführt. Wir können die einzelnen Simulationsschritte heute um mehrere Größenordnungen schneller berechnen also noch vor ein paar Jahren. Bald könnte es möglich sein, einen katalytischen Prozess wirklich zu verstehen. Und damit auch die Materialien zu verbessern, die wir als Katalysatoren oder Elektroden einsetzen. Ich glaube, wir sind unserem Ziel so nahe wie noch nie."