Materialien der Zukunft

Baumwolle ist ein Archiv der Menschheit

9. November 2023 von Redaktion
Die Verarbeitung von Baumwolle war über Jahrtausende eine Triebfeder für Innovationen, Globalisierung und Industrialisierung. Entlang der Wertschöpfungskette hat sie aber auch Probleme wie Sklaverei und Umweltzerstörung mit sich gebracht, erklären Noémie Etienne und Mariama de Brito Henn im Rudolphina-Interview.
Die Erforschung bedruckter Baumwollstoffe kann dazu beitragen, die bereits seit langem existierenden Verbindungen zwischen den Kontinenten greifbarer zu machen. So hat unsere Illustratorin Andreia Rocha die weltumspannende Bedeutung von Baumwolle veranschaulicht. © Andreia Rocha

Rudolphina: Seit wann kennt die Menschheit Baumwolle?

Noémie Etienne / Mariama de Brito Henn: Baumwolle ist schon seit langem ein Bestandteil unserer Geschichte. Einer der ältesten Funde in Huaca Prieta in Peru lässt sich auf 6.000 v.Chr. datieren. Sowohl in Südamerika, Nordostafrika als auch Indien wurde Baumwolle seit 5.000 v.Chr. domestiziert. Obwohl das Material schon lange in Europa verbreitet war, wurden die Verarbeitungstechniken dafür erst durch die islamische Expansion im 8. Jahrhundert bekannt.

Rudolphina: Wie lässt sich die Erfolgsgeschichte der Baumwolle erklären?

Noémie Etienne / Mariama de Brito Henn: Die Geschichte der Baumwolle ist so eng mit unserer eigenen verwoben, dass die Welt, wie wir sie kennen, kaum ohne dieses Material vorstellbar wäre! Die Verarbeitung von Baumwolle war ein kräftiger Motor für innovative Erfindungen, vom Spinnrad bis zum Kraftstuhl. So ist es auch nicht verwunderlich, dass Baumwolle von der Produktion bis zur Veredelung eine treibende Kraft der Globalisierung und Industrialisierung wurde. Der Prozess der Veredelung war stark vom indischen Baumwolldruck beeinflusst und stieg zu einer der stärksten Industrien in Europa im 18. und 19. Jahrhundert auf. Dadurch verdrängte der leichte, gut waschbare und einfach zu verarbeitende Stoff schnell klassische Materialien wie Hanf und Seide.

WISSEN

Baumwollpflanzen (Gossypium) sind eine Pflanzengattung innerhalb der Familie der Malvengewächse (Malvaceae). Es gibt insgesamt rund 50 Arten in den Tropen und Subtropen, wobei hauptsächlich vier Arten kommerziell angebaut werden: Hochland-Baumwolle (Gossypium hirsutum), Sea-Island-Baumwolle (Gossypium barbadense), Baumförmige Baumwolle (Gossypium arboretum) und Levante-Baumwolle (Gossypium herbaceum). Der überwiegende Hauptanteil entfällt dabei auf die Hochland-Baumwolle.

Die Bezeichnung "Baumwolle" leitet sich von den Büscheln langer Fasern in den Früchten der Baumwollpflanze ab. Diese ermöglichen die Ausbreitung der Pflanzensamen über größere Distanzen. Trotz des Namens ist die Baumwollpflanze kein Baum, sondern ein bis zu sechs Meter hoher Strauch.

Weitere Informationen im Lexikon der Biologie

Rudolphina: Drei Worte, die dieses Material am besten beschreiben?

Noémie Etienne / Mariama de Brito Henn: Leicht, robust, vielfältig.

Die prekären Arbeitsbedingungen entlang der Wertschöpfungskette der Baumwolle sind bis heute einer der größten Kritikpunkte am Material.
Noémie Etienne

Rudolphina: Was ist die Superpower, was die problematische Seite von Baumwolle?

Noémie Etienne / Mariama de Brito Henn: Zum einen machten Baumwollstoffe in Europa Mode zugänglicher für die verschiedensten Bevölkerungsschichten, zum anderen war der Handel mit Baumwolle und Textilien maßgeblich für den transatlantischen Sklav*innenhandel und die Plantagensklaverei in den USA verantwortlich. So wurden Stoffe gegen Menschen getauscht, die wiederum aufgrund der steigenden Nachfrage auf den Plantagen ausgebeutet wurden. Die prekären Arbeitsbedingungen entlang der Wertschöpfungskette der Baumwolle sind bis heute einer der größten Kritikpunkte am Material.

Rudolphina: Wo gibt dieses Material in der Forschung noch Rätsel auf…

Noémie Etienne / Mariama de Brito Henn: Baumwollhandel und seine Folgen sind weit erforscht, aber Baumwolldruck und Design werfen noch viele Fragen auf - etwa, wenn es um die gedruckten Bilder geht, die uns im öffentlichen Raum täglich begegnen. Wer trägt sie und wie? Welche Bildsprache wird hier transportiert und produziert? Diese und viele weitere Fragen warten noch auf Antworten.

Rudolphina: …und welche Rolle spielt es in der heutigen Zeit noch?

Noémie Etienne / Mariama de Brito Henn: Trotz vieler Alternativen ist Baumwolle kein Relikt der Vergangenheit, sondern bleibt einer unserer beliebtesten Rohstoffe. Allerdings trägt sie immens zur Zerstörung unseres Planeten bei, sei es wegen der großen Menge an Wasser und Chemikalien, die zur Produktion benötigt werden, oder aufgrund unseres übermäßigen Modekonsums - man denke nur an "Fast Fashion"-Konzerne wie Zara und Shein.

Arbeiter*innen säubern Baumwolle für die Weiterverarbeitung in einer Spinnerei. Indien, 2010
Arbeiter*innen säubern Baumwolle für die Weiterverarbeitung in einer Spinnerei. Indien, 2010 © CSIRO

Rudolphina: Womit beschäftigen Sie sich aktuell in Bezug auf das Material Baumwolle außerdem?

Noémie Etienne / Mariama de Brito Henn: In unserem Team widmen wir uns dem Kulturerbe im weitesten Sinne. Dabei geht es uns nicht nur um den reinen Gebrauch des Materials, sondern vor allem um die menschliche/kulturelle Komponente dahinter – die materielle und immaterielle Kultur. Dieser Ansatz ermöglicht es uns, ästhetische, wirtschaftliche und politische Fragen miteinander zu verknüpfen. Die Historie der Baumwolle zeigt eine global vernetzte Welt lange vor dem 19. Jahrhundert und dass ein kultureller und technischer Austausch schon immer zur Geschichte Europas gehörte. Sie zeigt auch, dass Fragen, die uns bereits zur Frühmoderne beschäftigten, heute noch relevant sind – so wie auch das Material Baumwolle selber.

Rudolphina: Was würden Sie gerne mit Ihrer Forschung erreichen?

Noémie Etienne / Mariama de Brito Henn: Wir möchten eine qualitative Analyse menschlichen Schaffens vorschlagen – wobei uns eine intensivere Forschung zu bedruckten Baumwollstoffen helfen kann, die bereits seit langem existierenden Verbindungen zwischen den Kontinenten greifbarer, deutlicher zu machen. Ein besonderes Augenmerk richten wir hier auf die Designs auf den Stoffen: Was wird dargestellt? Was sind die Inspirationen? Inwiefern funktionieren diese Designs als Orte der Erinnerung, Wissensspeicher, oder als Archiv? Gerade in diesen Aspekten gibt es in der Forschung zur Baumwolle noch viel zu tun.

Rudolphina: Ein Blick in die Zukunft – was bleibt von unserer Epoche, aus welchen Materialien werden Archäolog*innen der Zukunft Rückschlüsse über unsere Lebensweise ziehen?

Noémie Etienne / Mariama de Brito Henn: Wie schon vor 8.000 Jahren wird auch unsere Epoche Baumwolltextilien für zukünftige Archäolog*innen hinterlassen. Dabei werden die Berge an Textilien wohl eher an unseren ungebremsten Konsum als an Innovation erinnern. Aber vielleicht auch an unsere Bemühungen, eine bessere Welt zu schaffen. Finden doch gerade in der Wertschöpfungskette zur Baumwolle die meisten Bemühungen zur sozialen wie ökologischen Nachhaltigkeit statt.

Rudolphina: Was können uns Materialien wie Baumwolle über unsere Geschichte erzählen?

Noémie Etienne / Mariama de Brito Henn: Materialien wie Baumwolle sind so eng mit der Geschichte der Menschheit verwoben, weil sie uns so nah sind. Wir tragen sie auf der Haut, schlafen unter ihr und in manchen Fällen zahlen wir sogar mit ihr (Stichwort Banknoten aus Baumwolle). Baumwolle und ihre Verarbeitung sind nicht nur Motoren der Entwicklung, sondern auch ein Archiv unser eigenen Geschichte.

Serie: Wissenschafter*innen präsentieren "Materialien der Zukunft"

In dieser Serie stellen Wissenschafter*innen der Uni Wien jeweils ein "Material der Zukunft" vor, das neu und vielversprechend ist oder unsere Gesellschaft in der Vergangenheit besonders geprägt hat. Nächste Woche erklärt der Physiker Roberto Cerbino, warum Zellgewebe, das Material des Lebens, nicht nur für die Biologie interessant ist, sondern auch mit physikalischen Methoden untersucht werden kann. Zur Serie

Mariama de Brito Henn ist Universitätsassistentin am Lehrstuhl für Cultural Heritage an der Universität Wien. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit Textilien als Form alternativer Archive in der Afrikanischen Diaspora.
Noémie Etienne ist ordentliche Professorin für Kulturerbe und Kunstgeschichte an der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind (im)materielle Kultur seit der Renaissance, Postkoloniale Geschichte, Museen, Abgüsse und das Konzept der situierten Konservierung. ERC-Projekt: Global Conservation.