Verhaltensbiologie

Die Kunst des Hörens

6. April 2022 von Theresa Dirtl
Wir hören ein Geräusch z.B. von einem Auto, und können automatisch vorhersagen, in welche Richtung es sich bewegen wird. Welcher Prozess steckt hinter diesem Überlebensmechanismus? Das Projektteam von Dynamates führt erstmals eine vergleichende Studie zu dynamischen Vorhersageprozessen des Hörsinns zwischen Seidenäffchen und Menschen durch.
Frau steht vor einer Straße © Pixabay

Jedes Mal, wenn wir eine Straße überqueren, blicken wir nach rechts und nach links, um zu überprüfen, ob ein Auto kommt und ob es sicher ist, die Straße zu überqueren. Tatsächlich nutzen wir dazu aber nicht nur unsere Augen, sondern auch unseren Hörsinn. "Wenn wir eine Geräuschquelle wahrnehmen, stellen wir automatisch Vorhersagen an, wo wir das Geräusch als nächstes hören werden," erklärt Michelle Spierings vom Department für Verhaltens- und Kognitionsbiologie: "Wenn sich beispielsweise ein Auto von links nach rechts bewegt, können wir aufgrund der Geschwindigkeit und Fahrtrichtung des Autos vorhersagen, dass sich das Geräusch ebenfalls weiter nach rechts bewegen wird." Es ist dabei egal, ob wir von städtischem Verkehrslärm oder von Geräuschen im Wald umgeben sind – in beiden Situationen liegt diesem dynamischen Entscheidungsprozess des Hörsinns derselbe Überlebensmechanismus zugrunde.

Richtungsänderung

Geräusche können ihre Richtung ändern, was Wissenschafter*innen als "Umkehrpunkt" bezeichnen. "Wenn ein Geräusch seine Richtung ändert, nehmen wir aufgrund der vorherigen Sinnesinformationen normalerweise an, dass es sich dennoch auf seinem ursprünglichen Weg weiterbewegt. Würden wir aber nur die neuesten Informationen nach dem Umkehrpunkt beachten, würden wir die Fortbewegung des Geräuschs ganz anders vorhersagen," erklärt Michelle Spierings: "Im Rahmen unseres Projekts Dynamates wollen wir näher verstehen, welcher Prozess die Wahrnehmung und Vorhersage von akustischen Signalen bestimmt. Mein Kollege Ulrich Pomper und sein Team führen die Humanstudien durch, während ich und mein Team mit Seidenäffchen arbeiten und einer eher evolutionstheoretischen Frage auf den Grund gehen: Welche Unterschiede bestehen in den Prozessen der Schalllokalisierung zwischen Menschen und anderen Primaten? Greifen beide Gruppen auf dieselben Informationen zurück oder sagen sie Geräusche anders voraus?"

Ulrich Pomper vom Institut für Psychologie der Kognition, Emotion und Methoden spielt den Teilnehmer*innen in den Humanstudien unterschiedliche Geräusche vor und fragt sie, wo sie das Geräusch als nächstes vermuten würden. Diese akustischen Experimente kombiniert er mit EEG-Messungen, bei denen er nach Spitzen in den Gehirnströmen der Proband*innen Ausschau hält und untersucht, auf welche Art von Informationen sie zurückgreifen. Robert Baumgartner vom Institut für Schallforschung an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften ist ein weiterer Projektpartner. Er ist Experte auf dem Gebiet der Psychoakustik und der experimentellen Audiologie. "Robert ist ein ausgezeichneter Spezialist im Bereich der computergestützten Modellierung. Im Rahmen dieses Projektes berechnet er voraus, was die Proband*innen in diesen akustischen Experimenten tun sollten und welche Art von Informationen sie für ihre Vorhersagen nutzen," so Spierings.

Dynamates: interdisziplinäre Zusammenarbeit

Im Projekt Dynamates wird erstmals eine systematische vergleichende Studie zu dynamischen Vorhersageprozessen des Hörsinns und deren örtlicher und zeitlicher Verarbeitung bei Menschen und Seidenäffchen durchgeführt. Das interdisziplinäre Forschungsteam von Dynamates umfasst Expert*innen im Bereich der Computer-Neurowissenschaften und Psychoakustik (Robert Baumgartner, Psychoakustik und experimentelle Audiologie, ÖAW, in der Mitte), des EEG beim Menschen und der Sinnesverarbeitung (Ulrich Pomper, Institut für Psychologie der Kognition, Emotion und Methoden, Universität Wien; rechts) und der vergleichenden Kognitionsbiologie unterschiedlicher Tierarten (Michelle Spierings, Department für Verhaltens- und Kognitionsbiologie, Universität Wien, links). © Dynamates

The project team from left to right: Michelle Spierings, Robert Baumgartner and Ulrich Pomper.
The project team from left to right: Michelle Spierings, Robert Baumgartner and Ulrich Pomper. © Dynamates

Seidenäffchen als Versuchsteilnehmer

"Wir glauben, dass sehr wahrscheinlich auch andere Arten die Fähigkeit haben, Vorhersagen über akustische Signale zu treffen, da auch sie in ihrem Umfeld Geräusche verfolgen müssen, um zu überleben," erklärt die Verhaltensbiologin, die zuvor zur Sprachwahrnehmung von Vögeln forschte: "Bisher wissen wir allerdings nicht viel darüber, wie Tiere akustische Informationen nutzen und ob sie diese so nutzen wie Menschen. Genau das wollen ich und mein Team herausfinden. Wir führen Experimente durch, in denen wir die Seidenäffchen sozusagen 'fragen', woher ein akustisches Signal gekommen ist und wo es sich als nächstes befinden wird. Das Computermodellierungs-Team rund um Robert Baumgartner analysiert all diese Daten und vergleicht sie mit den Daten aus den Humanstudien, um festzustellen, auf welche Informationen Menschen und Affen zurückgreifen."

Hörunterschiede

Auch wenn der Hörbereich bei Seidenäffchen auf einer wesentlich höheren Frequenz liegt als bei Menschen, ist der Mechanismus des Hörens im Grunde derselbe. "Wir versuchen, die Experimente mit den Affen und den Menschen so ähnlich wie möglich zu gestalten und ändern nur die Geräusche, damit sie in Ihrem idealen Hörbereich liegen," erklärt Spierings. "Für uns ist wirklich wichtig, dass die Affen freiwillig und gerne an den Experimenten mitarbeiten – wir zwingen sie zu nichts. Wir laden sie höflich, zum Beispiel mithilfe einer Banane, zu unserem Experiment ein. Wenn sie keine Lust haben, ist es auch okay," so Spierings lächelnd. Spierings PhD-Projekt an der Universität Leiden befasste sich mit Aspekten der Sprachwahrnehmung, die sowohl bei Menschen als auch bei anderen Tieren eine Rolle spielen.

Akustische Experimente mit speziellem Lautsprecher-Setup

Die Verhaltensbiologin und ihr Team arrangieren Lautsprecher in einer bestimmten Anordnung rund um die Affen, die auf einem Sitzplatz sitzen, während ihnen die Geräusche vorgespielt werden: "Sie können sich nach Lust und Laune umherbewegen, aber wir beginnen erst dann mit dem Experiment, wenn sie still sitzen, damit wir die Position ihrer Ohren bestimmten können. Da wir nicht mit den Affen sprechen können, kommunizieren wir über Schalter." Das Grundprinzip zu Anfang ist relativ simpel: Die Affen sollen den Schalter drücken, der sich am nächsten zu dem Lautsprecher befindet, aus dem das Geräusch kam. Für eine richtige Antwort, bekommen sie eine Belohnung. Dann erhöhen die Biolog*innen den Schwierigkeitsgrad und spielen zwei bis drei Geräusche nacheinander ab. Die Affen müssen nun den Schalter für den Ort des letzten Geräuschs drücken.

"Sobald sie das beherrschen, können wir die Aufgabe komplexer gestalten und sie tatsächlich auch Geräusche verfolgen lassen, die sich von Lautsprecher zu Lautsprecher bewegen, inklusive Umkehrpunkte. Die Affen sollen dann den Schalter für den Lautsprecher drücken, aus dem sie das Geräusch das letzte Mal gehört haben," erklärt Michelle Spierings: "Wir wollen feststellen, wie sie diese Informationen verarbeiten und wie sie ihre Entscheidungen treffen. Es gibt dabei keine guten oder schlechten Resultate – alles, was die Affen tun, ist in Ordnung."

Zufriedene und glückliche Affen

Bislang liegen noch keine konkreten Ergebnisse vor, da die Datenerhebung in den Humanstudien noch nicht abgeschlossen ist. Bevor mit den akustischen Experimenten begonnen werden kann, müssen sich die Affen erst in ihrem neuen Zuhause im neuen University of Vienna Biology Building in St. Marx einleben. "Nach dem Umzug müssen wir warten, bis die Affen glücklich sind und sich wohl fühlen – das ist am wichtigsten," so Michelle Spierings, die sich schon auf die Arbeit mit den Äffchen im neuen Setup freut und ergänzt: "Die meisten Erkenntnisse zur perzeptionalen Entscheidungsfindung stammen aus  Studien mit visuellen Aufgabenstellungen. Wir hoffen, mit unserem Projekt den Kenntnisstand zu diesem Prozess auf den auditiven Bereich auszuweiten, der zumindest zum Sichern des Überlebens und für das Sozialverhalten eine wichtige Rolle spielt."

Rudolphina: Unsere aktuelle Semesterfrage lautet "Was bestimmt menschliches Verhalten?". Was antworten Sie als Verhaltensbiologin auf die etwas adaptierte Frage "Was bestimmt tierisches Verhalten?".

Michelle Spierings: Das Verhalten von Tieren wird durch viele verschiedene Umwelt- und evolutionäre Faktoren beeinflusst. Wie viele andere Eigenschaften auch ist das Verhalten stark durch natürliche und sexuelle Selektion bestimmt. Innerhalb sozialer Gruppen und auch darüber hinaus hat das Lernen jedoch großen Einfluss auf das Verhalten. Tiere können bestimmte Verhaltensweisen selbst oder von anderen erlernen und geben wichtige Informationen zu erfolgreichen Verhaltensstrategien weiter.

© privat
© privat
Michelle Spierings ist Assistenzprofessorin an der Universität Leiden und Postdoc am Department für Verhaltens- und Kognitionsbiologie der Universität Wien. Sie forscht zur Wahrnehmung von Sprache und dynamischen Entscheidungsprozessen in verschiedenen Vogelarten und Seidenäffchen. Von 2016 bis 2020 arbeitete sie als Postdoc im Labor von Tecumseh Fitch, wo sie zur Wahrnehmung von Sprache bei Tauben, Seidenäffchen und Menschen forschte. Gefördert vom FWF über einen Young Investigators Research Grant arbeitet Michelle Spierings nun am Dynamates-Projekt mit.