Technikforschung

Europa im Space Race

Sozialwissenschafterin Nina Klimburg-Witjes begleitet in ihrem aktuellen Projekt den Bau der europäischen Trägerrakete Ariane 6 und fragt: Welche Rolle wird Europa im neuen Weltraumzeitalter einnehmen? Unser Videoteam hat die Forscherin getroffen, um mehr zu erfahren.
Welche Vision haben wir als Europa? Wo wollen wir hin? Nina Klimburg-Witjes von der Universität Wien schließt vom ambitionierten europäischen Raketenprogramm Ariane 6 auf die politische, ökonomische und gesellschaftliche Integration Europas. © 2023 ESA-CNES-ARIANE-SPACE-ARIANEGROUP/Optique Vidéo du CSG-P

Die Spielregeln für das Miteinander im Universum sind im Weltraumvertrag verschriftlicht – ein ziemlich verstaubtes Überbleibsel aus dem Kalten Krieg, in dem Raketenbau noch eine nationale Angelegenheit war. Doch mittlerweile sind auch kommerzielle Akteure wie Space X & Co. im All unterwegs – und setzen die europäische Raumfahrt zunehmend unter Druck. 

Ariane 6 heißt die vielversprechende Trägerrakete, die Europa im globalen Space Race nach vorne bringen soll. Ihre Vorgängerin, Ariane 5, schien im Vergleich zu den privaten Mitstreitern "zu langsam, zu wenig innovativ, zu teuer – schlichtweg nicht mehr wettbewerbsfähig" und wurde 2023 in Rente geschickt, erklärt Sozialwissenschafterin und Technikforscherin Nina Klimburg-Witjes von der Uni Wien. Doch Raketenbau ist mit langen Planungsphasen verbunden, und es kann gut und gerne zehn bis 15 Jahre dauern, bis sich alle 13 am europäischen Ariane-Programm beteiligten Staaten geeinigt haben, weiß die Space-Expertin vom Institut für Wissenschafts- und Technikforschung. So wurde über den Bau von Ariane 6 schon 2014 entschieden und der Erstflug zunächst für Ende 2020 angekündigt, dann auf 2024 verschoben. Gleichzeitig bemängeln Expert*innen, dass die Rakete bereits bei ihrem Jungfernstart veraltet sein wird.

Die Dauerausstellung zum Thema Raumfahrt im Technischen Museum Wien ist der ideale Ort für unser Videoteam, um mit Nina Klimburg-Witjes über ihr aktuelles Forschungsprojekt FUTURESPACE zu sprechen. Anlässlich des nahenden Internationalen Frauentags am 8. März hat sie auch einen Tipp speziell für junge Wissenschafterinnen parat: "Habt keine Angst, eure Meinung zu sagen – eure Ideen zählen. Die Wissenschaft ist kein einfacher Karriereweg, daher ist es wichtig, einen Plan zu machen: Einen Plan, wo man hinmöchte und wie man realistisch dorthin gelangt." © Franz Quitt

Ob Ariane 6 heuer wirklich starten wird, ist noch unklar, und die Verzögerung sorgt auf Erden für hitzige Diskussionen. Der perfekte Forschungsgegenstand für Klimburg-Witjes, die im Rahmen ihres aktuellen Projekts FUTURESPACE europäische Visionen für den Weltraum betrachtet. Sie untersucht, wie aktuelle Fragen u.a. zur europäischen Integration, zur Militarisierung und Kommerzialisierung, sowie Klima-, Gender- und Postkolonialismusfragen dabei eine Rolle spielen.

Vortragsreihe "FutureSpace Talks"

Die neue monatliche Online-Vortragsreihe, ins Leben gerufen von Forschenden des Projekts FUTURESPACE, beleuchtet kritisch die Beziehungen und Zukunftsvisionen zwischen Erde und Weltraum. FutureSpace Talk #2 findet am Donnerstag, den 18. April 2024 von 16:00 bis 17:00 Uhr statt. Anna Szolucha von der Jagiellonen-Universität Krakau ist zu Gast mit ihrem Vortrag "Beyond Polarized Space: Deconstructing Myths and Reconstructing Meanings in a Multi-Cultural Examination of Space Exploration". Die Vortragssprache ist Englisch.

Die Reihe richtet sich an alle, die sich für Weltraumpolitik, Technologie und Zukunftsvisionen aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive interessieren. Hier gehts zur Registrierung für FutureSpace Talk #2.

Viele verschiedene Zentrifugalkräfte

In der Debatte um die europäische Trägerrakete herrschen derzeit vor allem zwei Positionen vor, so die Technikforscherin: Die eine Seite beschwört die europäische Integration und den Zusammenhalt des Staatenverbundes, der in Dingen Raumfahrt von der ESA (kurz für: European Space Agency) vertreten wird. Aus Sicht der Kritiker*innen hingegen sind zu viele Länder am Ariane-Projekt beteiligt, was zu einem internen Wettbewerb führe und die Fertigstellung unnötig herauszögere. Diese Seite plädiert dafür, dass kommerzielle Alternativen gefördert und auf diese Weise bürokratische, multinationale Programme auf Dauer abgelöst werden. "Es sind viele verschiedene Zentrifugalkräfte am Werk, sowohl politische als auch ökonomische. Dieser Umstand hat dazu geführt, dass Europa momentan gar keine Rakete hat", resümiert Klimburg-Witjes.

(K)ein unabhängiger Zugang zum Weltraum 

Brauchen wir denn unbedingt eine Rakete, fragt sich der*die Leser*in vielleicht an dieser Stelle. "Der unabhängige Zugang zum Weltraum ist für unseren irdischen Alltag wichtig", antwortet die Uni Wien-Professorin. Aus dem Weltall beziehen wir Daten für das Wetter, die Gletscherschmelze oder für die Telekommunikation. Doch unlängst sei das Universum auch zum erweiterten Kriegsschauplatz geworden, und Länder wie Russland oder Amerika beeinflussen mit sicherheitsrelevanten Satelliten das Militärgeschehen auf der Erde. "Dass die einzigen Raketen, die für europäisches Frachtgut zur Verfügung stehen, jene aus Amerika sind, ist vor diesem Hintergrund natürlich eine große Blamage und stückweit auch eine Gefahr", sagt Klimburg-Witjes.

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Millionen von Trümmerteilen umkreisen die Erde und könnten in Zukunft die Weltrauminfrastruktur ernsthaft gefährden. Mit Technikforscher*innen Nina Klimburg-Witjes und Kai Strycker sprechen wir über das "Weltraumschrott-Dilemma" – auch im Universum mag sich scheinbar niemand an den Putzplan halten.

Werte im All

Klar: Ein Elon Musk tut sich mit seinem sehr zentralisierten Unternehmen SpaceX leichter, schnelle Entscheidungen zu treffen und Satelliten in die Umlaufbahn zu schicken, als ein europäischer Verbund, der sich oft uneinig ist. Doch was ist mit fairen Arbeitsbedingungen, mit Diversität in der Raumfahrt oder Fragen der Nachhaltigkeit? Da hat Europa natürlich eine andere Verantwortung als private Unternehmen, erklärt Klimburg-Witjes die Rolle der europäischen Raumfahrt. So ist rund die Hälfte der neuen ESA-Astronaut*innen weiblich, und ein paralympischer Astronaut mit Beeinträchtigung zählt zum europäischen Kader. (Hier stellt die ESA ihre neuen Astronaut*innen vor). Auch in Dingen Klimaschutz nimmt Europa eine besondere Stellung ein: Während für private Unternehmen wirtschaftliche Interessen an erster Stelle stehen, werden Satellitendaten in Europa unter dem Stichwort "Green Transition" für Strategien zur Eindämmung der Klimakrise genutzt.

Halbtotale Aufnahme von zwei Menschen von hinten, ein Objekt im Museum betrachtend
Die mit einem ERC-Grant ausgezeichnete Technikforscherin betrachtet in ihrem aktuellen Projekt die europäischen Weltraumaktivitäten aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive © Franz Quitt

Follow the Rocket

Im Projekt FUTURESPACE, das vom Europäischen Forschungsrat (ERC) gefördert wird, werden Klimburg-Witjes und ihr Team der Ariane quasi hinterherreisen. Ganz in europäischer Manier wird die Produktion nämlich nach dem Geo-Return Prinzip geteilt. Die Staaten, die mehr in das Raketenprogramm investieren, werden mit entsprechend größeren Produktions- und Industrieaufträgen für das eigene Land belohnt. Doch prinzipiell können alle europäischen Länder "mitspielen", auch jene, die sonst keinen Zugang zur Raumfahrt hätten. So stellt Spanien die Schnittstelle zwischen Trägerrakete und Satellit bereit, Frankreich entwickelt das Triebwerk und in Deutschland entsteht die Oberstufe, bevor die fertigen Einzelteile per Schiff nach Französisch-Guyana verfrachtet werden.

"Wir folgen der Rakete auf ihrer Reise durch die verschiedenen europäischen Länder und schauen uns an, wie sich die politische Integration in der technologischen Integration der Rakete widerspiegelt", fasst die Technikforscherin zusammen. Ziel des Projekts ist schließlich eine Topographie von Arianes "Europatrip" und den damit verbundenen Diskursen.

Die kolonialistische Seite der Raumfahrt

Die finale Destination auf Erden ist der europäische Weltraumbahnhof in Französisch-Guyana, von wo aus die Rakete ins All starten soll. In Äquatornähe kann die Schubkraft der Erde am besten ausgenutzt werden – daher der Standort fernab vom europäischen Festland in Französisch-Guyana, ein Überseedepartment und Überbleibsel aus der Kolonialvergangenheit. Ein bisschen symbolisch ist der Standort aber auch, schließlich "geht es im Space Race auch darum, den verfügbaren (oder imaginierten) Raum außerhalb der Erde zu 'kolonisieren'." 

Die Lehren aus der Kolonialgeschichte werden aber im Weltraumsektor völlig ignoriert, merkt Klimburg-Witjes an. So gab es in Französisch-Guyana Aufstände gegen den Weltraumbahnhof, die Lärmbelästigung, die lokale Umweltzerstörung und die Ungerechtigkeit, dass der High-Tech Hub für die heimische Wirtschaft wenig bringt – erfolglos. "Wenn in Deutschland Windräder gebaut werden, müssen die Anrainer*innen zustimmen, in diesem Fall aber wurden die Menschen einfach übergangen. Als Sozialwissenschafterin ist es für mich spannend, wie sich der historische Kontext in das Hier und Jetzt übersetzen lässt."

"Der Bau von Ariane spiegelt die Zukunftsvision Europas im Weltraum wider, aber auch die verschiedenen Formen politischer und ökonomischer Integration auf der Erde."
Nina Klimburg-Witjes

"Guten Flug!"

Vor Projektbeginn besuchte Nina Klimburg-Witjes Produktionsstätten in Bremen und Ottobrunn und durfte dabei sogar eine Raumkapsel betreten – unter strengsten Hygienevorschriften. Dabei kam ihr die Frage in den Sinn, ob die Menschen, die jahrelang an den Raketenteilen bauten, nicht manchmal das Bedürfnis überkomme, etwas in die Wände einzuritzen, so wie "Ich war hier" oder "Guten Flug!" und sich damit in die Geschichte einzuschreiben. Der Engineer, der sie durch die Produktionsstätte geführt hat, musste auf diese Frage lachen – tatsächlich würde er das gerne tun, aber es ginge natürlich nicht. "Manchmal muss man es auch wagen, blöde Fragen zu stellen, um sich einem Forschungsgegenstand anzunähern – und das traue ich mich", sagt die sympathische Forscherin mit einem Lachen.

"Wie die Menschheit mit dem Weltraum leben will, sollten wir nicht nur Politik und privaten Firmen überlassen", betont die Space-Expertin abschließend, "es braucht im Weltraumsektor auch eine sozialwissenschaftliche Analyse und Stimme." (hm)

© Nina Klimburg-Witjes
© Nina Klimburg-Witjes
Nina Klimburg-Witjes ist Tenure Track Professorin am Institut für Wissenschafts- und Technikforschung der Uni Wien.

Zu ihren Schwerpunkten zählen u.a. soziale Studien zum Weltraum und Zukunftsvisionen der Erde-Raum-Beziehungen, Wissenschaft, Technologie und internationale Beziehungen. 2022 hat sie für ihr Projekt "FUTURESPACE" einen ERC Starting Grant erhalten.